Kategorien
OKTAVHEFT

Schwarze Löcher

Sieht so aus, als hätten wir einem Virus den Krieg erklärt. Oder hat das Virus am Ende uns den Krieg erklärt? Diese Möglichkeit lässt sich leider nicht so leicht von der Hand weisen. Und damit wäre der Punkt erreicht, an dem selbst Händewaschen nichts mehr hilft.

Das Virus hat sich innerhalb kürzester Zeit zu einer echten Bedrohung für uns alle entwickelt. Deshalb müssen wir ihm unbedingt Einhalt gebieten. Mit äußerst krassen Methoden, auch wenn die persönliche Freiheit jedes Einzelnen darunter leidet. Dennoch kann ich mich eines Gedankens nicht ganz erwehren: Sind wir für unseren Planeten nicht schon viel länger zu einer Bedrohung geworden? Ist das gerade ein Angriff oder ein Verteidigungsschlag?

Was auch immer es ist, ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas in dieser Größenordnung erlebt zu haben. Man sucht ja zwangsläufig nach Vergleichen. Als der Reaktor des Kernkraftwerks in Tschernobyl explodierte, war ich noch im Kindergarten. Dass das Gemüse in unserem Garten danach sofort in die Mülltonne wanderte, weiß ich nur aus Erzählungen. Man hatte Angst vor radioaktivem Niederschlag und blieb drinnen, wenn es regnete. Wir Kinder durften nicht mehr im Sandkasten spielen. Ein unsichtbarer Feind hatte das ganze Land in helle Aufregung versetzt, doch es bestand keine Notwendigkeit, soziale Kontakte einzuschränken. Heute hockt halb Deutschland im Homeoffice. Keiner wirft verstrahlten Salat in den Müll, aber man hat Angst, den Türöffner in der U-Bahn zu berühren.

Auch 9/11 gehört in eine ganz andere Kategorie. New York war damals noch sehr weit weg für mich. Und ich hatte noch nie einen Fuß in ein Flugzeug gesetzt. Trotzdem verfehlten die Terrorangriffe ihre Wirkung nicht. Wir saßen gebannt vor dem Fernsehen und schauten uns immer wieder die gleichen verwackelten Bilder an. Und mit uns die diffuse Angst, nicht zu wissen, wo als nächstes etwas Ähnliches passieren würde. Die ganze Welt hielt kurz den Atem an – und beschloss dann, einfach weiterzumachen wie bisher. Die Rückkehr zur Normalität war eine Trotzreaktion: Ihr kriegt uns nicht klein.

Am Ground Zero wurde dann später ein gewaltiges Mahnmal gegen das Vergessen errichtet. Aber wenn man da steht und in die Tiefe schaut, hat es fast den gegenteiligen Effekt. Den Eindruck hatte ich jedenfalls vor ein paar Jahren, als ich das Denkmal in New York aus nächster Nähe betrachtete.

Ich sah zwei schwarze Löcher, so groß wie die Grundfläche der ehemaligen Wolkenkratzer. In jedem Loch stürzte Wasser von allen Seiten zunächst in ein quadratisches Becken, um danach in dessen Mitte in einem scheinbar bodenlosen Schlund zu verschwinden – als wollte es auf diese Weise jede Erinnerung an das schreckliche Ereignis in sich aufsaugen. So wie echte schwarze Löcher das mit Materie, Licht und Zeit ja letztendlich auch machen. Ich kann nur hoffen, dass es ein heilsames Vergessen ist.

Die Angst vor dem Terror ist immer noch da. Aber wir können ihr zumindest mit verschärften Sicherheitskontrollen am Flughafen entgegenwirken. Und damit, dass wir uns trotz allem so normal wie möglich verhalten.

Und was ist jetzt mit diesem neuen Feind, dem Virus? Ihn können wir offenbar nur in die Knie zwingen, wenn wir unsere grundlegenden Gewohnheiten ändern – und uns so abnormal wie nur möglich verhalten.

Zu Hause bleiben. Auf Abstand gehen. Und deswegen bitte keinen Aufstand machen. Sonst haben wir hier bald auch eine Ausgangssperre. #viennacalling