
Ich gehe schon seit einiger Zeit mit einer Geschichte schwanger, die sich vor gut hundert Jahren zugetragen hat. In dieser Geschichte übers Ballonfahren (und Bergsteigen) dreht sich alles um zwei Schwestern aus Meißen, die wild entschlossen ihre Röcke rafften und sich ins Abenteuer stürzten. Und das war im Deutschen Kaiserreich alles andere als normal.
Frau trug damals noch Korsett, trieb keinen Sport, dufte nicht wählen und es gab vielleicht eine Handvoll Berufe, die sie ausüben konnte – und das auch nur, bis sie endlich (gottlob!) verheiratet war.
Diese Zeiten sind vorbei – und das ist auch gut so. Warum liegt mir also soviel daran, mich gedanklich in das vergangene Jahrhundert und auf die Spuren zweier Frauen zu begeben, von denen nicht sehr viel mehr überliefert ist als ein mehr oder weniger wild zusammengewürfeltes Erinnerungsbuch mit ihren Berg- und Ballonabenteuern? Was hätten uns Marga und Elli Große heute noch zu sagen?
Ok. Reden wir über Relevanz.
Vielleicht hätte diese Geschichte mein Interesse gar nicht geweckt, wenn es nicht eine Stelle in besagtem Buch gegeben hätte, die mir seltsam vertraut vorkam… Doch bevor wir dazu kommen, möchte ich, dass ihr euch in die folgende Situation versetzt:
Wir befinden uns im Jahr 1911.
Irgendwo in Ungarn. Die Damen Große haben es soeben geschafft, ihren Ballon sicher zu landen, der sie in nur einer Nacht von Dresden bis hierher getragen hat. Ein Sturm hatte den Ballon erfasst und mit sich gerissen. Während der Wind weit unter ihnen an den Bäumen gezerrt und alles weggeweht hatte, was nicht angebunden war, harrten die Schwestern in vollkommener Windstille ihrem Korb aus und warteten darauf, dass der Sturm abflachte, denn die erfahrenen Ballonfahrerinnen wussten, dass sie bei diesen Bedingungen niemals würden landen können.
Als sie den Ballon endlich auf dem Boden aufsetzen können und nach wilder Schleiffahrt durch ein Kornfeld kurz vor der ersten Baumreihe eines Wäldchens zum Stehen bringen, wälzen sich die Schwestern überglücklich aus dem umgestürzten Korb. Doch das heikle Manöver ist nicht unbemerkt geblieben. Schon kommt ein Jäger angerannt.
„Sind sie verunglückt?“
Atemlos reicht er den Daumen die Hand, schaut sich verwirrt um.
„Wo sind denn die anderen?“
„Die anderen? Wir sind allein.“
„Was?! Zwei Damen allein?
Und auch noch aus Deutschland!“
Der gute Mann war völlig von den Socken. Unglaublich, dass zwei Frauen tatsächlich in der Lage sind, alleine in einem Ballon von Deutschland bis nach Ungarn zu fahren…
Man könnte jetzt sagen: Das ist über hundert Jahre her. Heute passiert so etwas doch nicht mehr. Mann weiß, was Frau kann und traut es ihr auch zu. Nein, nicht immer. Und das wäre noch gelinde formuliert.
Denn nun folgt, was sich 2009 in der kleinen Polizeistation von Qikiqtarjuaq auf Baffin Island zugetragen hat. Die Baffin Babes, vier Abenteuerinnen aus Schweden und Norwegen wollen sich hier ordnungsgemäß abmelden, bevor sie zur längsten Skitour ihres Lebens aufbrechen: 1200 Kilometer auf dem arktischen Packeis liegen vor ihnen. Und welche Frage des pflichtbewussten Officers bleibt während dieser Unterredung natürlich nicht aus?
„I understand you have a guide going with you?“
Jetzt sind die Baffin Babes verwirrt und müssen nachfragen.
„A guide?“
„Is there a guide going… travelling with…?“
„No. We‘re going on ourselves.“
„You‘re on your own!“
Es ist nicht zu verbergen. Das Erstaunen des Officers kennt keine Grenzen. Meines übrigens auch nicht. Fast ein ganzes Jahrhundert liegt zwischen diesen beiden Begegnungen und es scheint, als habe sich nichts geändert.
Die Abenteuerdoku „Baffin Babes“, in der sich der oben skizzierte Dialog abspielte, lief 2011 im Programm der European Outdoor Film Tour. Es war nach 11 Jahren – seit Bestehen der Filmtour! – der erste Film, bei dem eine Gruppe von Abenteuerinnen im Mittelpunkt stand. Wir titelten damals mit „Viel Abenteuer – wenig Bart“ und waren froh, dem durch und durch männlich dominierten Genre etwas Feminines entgegensetzen zu können. Ich habe unten mal eine meiner Lieblingsszenen aus dem Film verlinkt. Die erklärt Einiges.
Doch bis heute sind Frauen in Abenteuerfilmen eher dünn gesät. Es gibt sie, aber mein Eindruck nach über zehn Jahren im Business ist, dass die großen Budgets (die die Grundlage einer Expedition und einer guten Doku sind) tendenziell eher an die männlichen Kollegen gehen. Oder haben Frauen einfach weniger das Bedürfnis, von ihren Abenteuern zu erzählen – filmisch zumindest? Bücher zum Thema gibt es ja eine ganze Menge.
Ich muss gestehen – und zu meiner Schande gestehen – dass ich die Abwesenheit von Frauen in der Abenteuerwelt lange Zeit als normal empfunden habe. Ich habe mich nicht gefragt: Wo sind die Frauen? Im Nachhinein finde ich das ziemlich alarmierend, vor allem, weil dieser Zeitraum so lange war.
Meine erste richtige Abenteuergeschichte habe ich schon in der neunten Klasse geschrieben. In Französisch. Wir hatten eine engagierte Lehrerin und nahmen zum ersten Mal am Bundeswettbewerb Fremdsprachen teil. Die Französischen Revolution war gerade dran gewesen und irgendwie muss sich das Bild der zu jener Zeit vielgenutzten Guillotine in meinem Hirn irgendwie mit meiner Vorliebe für Gruselgeschichte verschaltet haben.
Auf jeden Fall fand ich es amüsant, die enthauptete Königin Marie Antoinette als Geist auf der Suche nach ihrem Kopf in Erscheinung treten zu lassen. Doch Marie Antoinette war nur als Nebenfigur geplant. Eigentlich ging es um zwei Jungs, die ihrem Geist auf einer ungeplanten Zeitreise ins Jahr 1793 zufällig begegnen sollten…
Naja, es war ziemlich wild und weil wir uns mit den visuellen Effekten, die die Verfilmung einer solchen Geschichte erforderte hätten, eindeutig überfordert fühlten, blieb uns nichts anderes übrig als uns in ein weitaus unkompliziertes Genre zu flüchten: Wir haben das Ganze dann als Hörspiel aufgenommen. (Was gäbe ich darum, diese Kassette noch einmal anhören zu können!)
Wir waren deutlich mehr Mädchen in der Französischklasse und die wenigen Jungs glänzten nicht unbedingt in Sachen Aussprache. Somit hätte ich die Geschichte schon aus rein praktischen Gründen von Anfang an mit weiblichen Hauptfiguren planen müssen. Aber auf diese Idee bin ich beim Schreiben gar nicht gekommen! Mädchen gehen nicht auf abenteuerliche Zeitreisen. What?! (Sage ich heute.)
Zum Glück wunderte sich unsere Lehrerin damals schon und schlug kurzerhand vor, aus den beiden Jungs zwei Mädchen zu machen. Und damit hatte ich auch noch eine der beiden Hauptrollen an der Backe.
Ich bin heilfroh, dass die Zeiten dieser innerlichen Denkblockade inzwischen auch vorbei sind. Das Abenteuer ist auch weiblich – und es sollte auch mehr Geschichten geben, die davon erzählen. Als Buch, als Film – whatever. Wer weiß, wohin mich meine beiden Ballonfahrerinnen noch tragen werden. Ich bleibe auf jeden Fall dran.
Fortsetzung folgt…
Ach ja: So kann das harte Abenteuerleben auch aussehen: