Kategorien
STORYTELLING WERKSTATTBERICHT

Werkstattbericht: Zeitreise

Ich habe in den letzten Wochen festgestellt, dass Zeitreisen besonders sehr sind, wenn draußen strenge Ausgangsbeschränkungen herrschen – und dass ich dafür nicht viel mehr brauche als eine alte Zeitung. Dabei beschäftigte mich eigentlich nur die folgende Frage: Waren meine beiden abenteuerbegeisterten Meißener Schwestern jemals öffentlich in Erscheinung getreten?

Es stellte sich heraus: Sie waren…

In einer kleinen Notiz auf Seite 6 des Namslauer Stadtblattes vom 8. August 1911 wurde von einem Beinahe-Ballon-Unglück in der Nähe von Innsbruck berichtet, das Marga auch in ihren Erinnerungen beschreibt.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich die kleine Meldung endlich auf der letzten Seite in der Rubrik Vermischtes entdeckt hatte. Einem ersten Faktencheck war damit vorerst genüge getan. Mehr noch, diese eng gedruckten Zeilen hatte mich ganz unverhofft in eine andere Zeit und an einen anderen Ort versetzt. Ein weiterer positiver Nebeneffekt: Ich jetzt wesentlich besser Fraktur lesen kann als vorher.

In Innsbruck stieg der Ballon „Tirol“ mit Oberleutnant Cajanek von der Luftschifferabteilung in Trient als Führer, den Damen Margarete und Elisabeth Große aus Meißen sowie Generalmajor Janitschek als Insassen morgens auf. Um die Mittagszeit wurde von Innsbruck aus beobachtet, dass der Ballon zwischen den Mohrenköpfen und den Neunerspitzen rapid niederging. Da man ein Unglück vermutete, ging von Innsbruck einen Sanitätsmannschaft ab. Es stellte sich dann jedoch heraus, dass der Ballon Ballastmangels wegen mitten im Gebirge die Landung hatte vornehmen müssen, die zwar schwierig, aber glücklich vonstatten ging.

Namslauer Stadtblatt, 8. August 1911

Wo liegt denn eigentlich Namslau?

Das ist nämlich gar nicht so leicht. Und wenn man keine Übung darin hat, kommt es schon mal vor, dass man ein „R“ mit einem „N“ verwechselt… Nun, nachdem ich festgestellt hatte, dass es Ramslau ganz offensichtlich nicht gab, versuchte ich stattdessen, Namslau zu verorten. Ich wurde fündig. Allerdings nicht einmal annähernd in der Nähe von Innsbruck.

Kleiner Exkurs: Namslau heißt heute Namysłów und liegt in Polen. In einer Gegend, die früher Schlesien genannt wurde und einmal zu Deutschland gehörte hatte. Wohlgemerkt: Wir reden hier vom Deutschen Kaiserreich und den Grenzen von 1871. Als nach dem 1. Weltkrieg der Versailler Vertrag 1920 in Kraft trat, befand sich Namslau dann auf polnischem Gebiet. Mit dem Überfall auf Polen 1939 wurde die Stadt erneut deutsch, ab 1945 dann wieder polnisch. Und die deutsche Bevölkerung wurde vertrieben. Hier spielten sich einige der umrühmlichsten Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte ab. Aber all das ahnte dort ja noch niemand, im August 1911.

Namysłów und Innsbruck sind heute gut 940 Kilometer und 9 Autostunden voneinander entfernt. 1911 war es gefühlt noch ein bisschen weiter. Denn man reiste langsamer.

Für die Tatsache, dass eine Namslauer Zeitung über eine missglückte Innsbrucker Ballonfahrt berichtet, habe ich nur eine einzige Erklärung: Es muss sich um eine außergewöhnliche Kuriosität gehandelt haben. Entweder, weil das angebliche Unglück gar keiner war – oder aber weil zwei Frauen mit von der Partie gewesen waren!


Die Reise geht noch weiter.

Eigentlich wollte ich ja nur bis Innsbruck. Aber dann landete ich in Namslau. Und als ich dort ankam, war auch Afrika nicht mehr weit. Ich kann es nicht leugnen, das verflixte Stadtblatt hatte meine Neugier geweckt. Was war am 8. August 1911 sonst noch an der Tagesordnung gewesen?

Gleich auf der ersten Seite springt mir eine vornehme Headline ins Auge: Das französische Kongogebiet. Man berichtete von den deutsch-französischen Verhandlungen über den Kongo und Marokko. Fazit: Koloniales Territorialgeschacher, befremdlich und beschämend.

Der nächste Artikel widmet sich dem deutschen Kaiser Wilhelm II. und seinen Lieben. Es wird berichtet, der Kaiser habe bei einem Jagdausflug auf dem schlesischen Schlosse Klitschdorf zwei kapitale Hirsche erlegt und auf der Heimfahrt „ein so langsames Automobiltempo eingeschlagen“, dass „es jedem Einzelnen (…) möglich war, den Kaiser genau zu sehen“. Während er „recht gebräunt und gesund“ aussah und „ausdauernd für die ihm dargebrachten Huldigungen“ dankte, hütete seine Frau Gemahlin auf Schloss Wilhelmshöhe mit einer kaiserlichen Mandelentzündung das Zimmer. Der Kronprinz war inzwischen zur Steinbockjagd ins Aostatal aufgebrochen.

Hatten die Redakteure hier ein Sommerloch zu füllen oder war dies wirklich das, was die Menschen an erster Stelle unter der Headline Politische Übersicht lesen wollten? Wären diese Infos nicht eher ein Fall für die Regenbogenpresse gewesen? Ja, wenn es die damals schon gegeben hätte! Eigentlich schade – bei den ganzen Königshäusern.

Vielleicht war es wirklich eine Sensation, dass der Kaiser seine Sommerfrische in Schlesien verbrachte. (Wir erinnern uns, was in Altötting los war, als der Papst einmal nach Bayern kam!) Und die Menschen, die ihm zujubelten? Die meisten hatten vom Kaiser wohl nie mehr als ein Foto gesehen. Berlin war weit weg und es gab noch keinen Fernseher, indem man seine Auftritte allabendlich hätte verfolgen können.


Momentaufnahmen anno 1911

Keine Angst, ich werde es euch ersparen, hier die ganzen sechs Seiten zu rezitieren. Das wäre in der Tat ein bisschen mühsam. Vielleicht bin in ja auch die Einzige, der sich bei der Lektüre einer alten Zeitung buchstäblich eine ganze Welt auffaltet. Für mich wird die Geschichte zwischen diesen Zeilen jedenfalls wieder lebendig. Und das muss sie auch, damit ich mich in meine Story hineinfühlen kann.

Wenn ich wissen will, wie sich das Leben vor 100 Jahren abgespielt hat, brauche ich Quellen, die nicht schon durch drei Hände gegangen sind – sonst werden am Ende immer nur die gleichen Klischees weitergegeben. Und eine altes Namslauer Stadtblatt scheint mir für diese Recherchen eine zumindest eine solide Basis zu sein: Die Rubrik Vermischtes mit ihren Momentaufnahmen aus dem vergangenen Jahrhundert sollte sich als wahre Goldgrube erweisen.


Juwelendiebe & „wohlwollende“ Einbrecher

Es zeigte sich, dass Katastrophen wohl seit jeher von Interesse gewesen sind. Der Sensationsjournalismus ist damit älter als ich dachte: „Bootsunglück auf Rügen“, „Vater und Kind ertrunken“, „Hochwasser in Sicht!“, „Mühlenbrand in Bernburg“, „Waldbrand bei Innsbruck“, „Sturz vom Dache in Berlin“ und „Absturz im Grödner Tal“. In Hinschenfelde (damals noch bei Hamburg) flog ein Kessel in die Luft, in der Türkei explodierte das Pulvermagazin eines jüdischen Pulverfabrikanten während einer Hochzeitsfeier in ein Valenzia stürzte ein Teil einer alten Festung ein und begrub 30 Häuser unter sich.

Aber: Da sind keine Autounfälle, keine Flugzeugabstürze, keine Terroranschläge, keine Kindesentführungen… Ich sage nicht, dass es deswegen besser war. Es war bloß anders. Und doch gibt es vieles, das sich anscheinend nie ändert:

„Vorsicht beim Genuß vom Obst!“, „Zur Warnung: Die Unsitte, Kindern das Spielen mit Streichhölzern zu leicht zu machen, hat wieder ein Opfer gefordert.“, „Schwerer Unfall während einer Schießübung“, „Verrat militärischer Geheimnisse“. Illegale Informationsbeschaffung steht wohl seit jeher hoch im Kurs. Womit wir bei den kriminellen Handlungen angelangt wären.

Aus Breslau wird gemeldet: Ein „Werber für die Fremdenlegion (…) machte sich an einen etwa 15 Jahre alten Schüler heran, den er verleitete, sich eine Summe Geldes anzueignen und (…) nach der Schweiz und sodann nach Marseille zu reisen.“ Kindern und Jugendliche Waffen in die Hand zu drücken ist ein Übel, das bis heute nicht aus der Welt geschafft werden konnte.

Immerhin war man in Königswusterhausen auf der Spur der Berliner Juwelendiebe. ( Juwelendiebe!) In Schwerin konnten Raubmörder ergriffen werden, ein Breslauer Student der Zahnheilkunde wurde des Mordes mit Chloroform überführt und in Berlin flog ein Bankschwindel durch eine gefälschte Unterschrift gerade noch rechtzeitig auf. Weniger Glück hatte die Reichsbank in Petersburg, die ihrer Filiale in Chabarowsk ein Geldpaket mit 200 000 Rubel geschickt hatte. Denn anstatt des Geldes kamen beim Öffnen des Pakets nur gewöhnliche Papierschnipsel zum Vorschein.

In Berlin waren die Kriminellen „wohlwollender“:

Ein Gastwirt in der Reichenbergerstraße wurde kürzlich von Einbrechern heimgesucht. Während er unten im Geschäft zu tun hatte, räumten sie ihm oben im ersten Stock die Wohnung aus und nahmen für 1000 Mark Kleidungsstücke und Wertgegenstände mit. Aber die Diebe waren wenigstens einigermaßen rücksichtsvoll und wohlwollend. Sie versetzten zwar ihre Beute, sandten aber dem Bestohlenen wenigstens die Pfandscheine zu. Wenn er ein kleines Opfer bringen will, kann er also wieder zu seinem Eigentum kommen!

Namslauer Stadtblatt, 8. August 1911

Herrlich! Auch wenn all dies nicht Weltbewegendes ist: ein vergangenes Jahrhundert wird allemal wieder lebendig. Vor allen Dingen seine Schattenseiten. Die Sonnenseiten muss ich wohl noch suchen…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert