Ich hatte nie vor, meine beiden Heldinnen als „damsels in distress“ zu zeigen. Aber genau das ließ sich nicht vermeiden, als ich die Meldung aus dem Namslauer Stadtblatt zitierte… Was war noch mal passiert? Ein Ballon stieg auf und stürzte beinahe ab – und mit von der Partie waren eben auch zwei Damen, die aber glücklicherweise gerettet werden konnten.
Seien wir ehrlich: Welche Leserin, welcher Leser des Jahres 1911 hätte ernsthaft angenommen, dass sich zwei weibliche Geschöpfe selbstständig aus so einer Situation hätten befreien können? Natürlich musste die gefährliche Sturzfahrt durch den heldenhaften Einsatz der beiden anwesenden Männern aufgehalten worden sein.
Ich weiß, das steht nicht da. Aber ich wage zu behaupten: Das musste man auch nicht hinschreiben…
Die „Momentaufnahmen“ aus dem Namslauer Stadtblatt haben uns zwar einen ersten Einblick gegeben, wie sich das Leben anno 1911 angefühlt hat. Da ich aber die Geschichte zweier Frauen erzählen will, werde ich nicht umhin kommen, mich um eine weiblichere Perspektive zu bemühen und sollte in diesem konkreten Fall Marga selbst zu Wort kommen lassen:
Auf eine lange, weite Hochgebirgsfahrt hatten wir gehofft – doch wehte fast kein Wind. Nur in großer Höhe – ich schätze um 4000 Meter – hatten Elli und ich ganz früh am Morgen an einem Wölklein über der Nordkette Nordströmung wahrgenommen. Wir wären darum gern sofort hochgestiegen, um die Strömung auszunutzen. Da wir aber nicht führten, hatten wir nicht zu bestimmen.
Margarete Große: Frauen auf Ballon- und Bergfahrten
Oha. Und offenbar gab es auch nichts zu diskutieren. Kein Wort darüber, dass man mit den beiden Herren gesprochen und ihnen die eigenen Beobachtungen und Ideen mitgeteilt hätte. Stattdessen nur vornehmes Schweigen – was zur Folge hatte, dass der Ballon etwa drei Stunden lang über dem Fallbachkar im Karwendel dahindümpelte.
Als man endlich höher hinaufstieg, waren die Ballastvorräte bereits gefährlich zusammengeschmolzen. Ein Wolkenschatten – und damit eine kühlere Luftschicht – lösten dann die Sturzfahrt aus, die vom Tal aus beobachtet wurde und besagte Rettungsmannschaft zum Abmarsch veranlasste. In Margas Erinnerungen stellt sich die Situation weit weniger dramatisch dar:
Einmal machten wir sogar – unfreiwillig, durch Sturz infolge Wolkenschattens – einen kurzen Ausflug, besser Einflug in das Gebiet der Wechselscharte – : wildes Emporschießen der Zacken und Wände um uns her! – Sand, Sand! – Und wir stiegen wieder. Die richtige Vorstellung der Wildheit der Gegend hatten wir nun erst gewonnen! Dazu nach der Vorhersage Gewitterneigung! (…)
Margarete Große: Frauen auf Ballon- und Bergfahrten
Vielleicht ist das nur meine Lesart, aber ich glaube, dass sie sogar ein bisschen Spaß hatte, als es urplötzlich nach unten ging und die bis dahin recht träge Ballonfahrt doch noch etwas Abwechslung bekam. Auch ihr Schreibstil ändert sich unwillkürlich. Er wird kürzer und abgehakter: Einschübe, unvollständige Sätze, übermäßiger Gebrauch des Ausrufungszeichens! Wir sind hier mittendrin und live dabei. Doch leider bleibt so eine Information auf der Strecke: Wer warf den rettenden Ballast eigentlich ab?
Es muss sich beim Ballon „Tirol“ übrigens um einen Gasballon gehandelt haben, der sich nur durch Abgabe von Ballast in der Höhe regulieren ließ. Wahrscheinlich fuhren die Damen immer im Gasballon, denn an keiner einzigen Stelle im Buch wird irgendein Brenner betätigt (wie man es vielleicht von einem klassischen Heißluftballon kennt) um wieder an Höhe zu gewinnen.
Hier haben wir einen Moment, in dem die Erzählung unscharf wird und Interpretationen erlaubt. Wie haben die beiden Frauen wohl reagiert?
Haben sie es dem Ballonführer überlassen, Ballast abzuwerfen und sich wider besseren Wissens zurückgenommen, weil sie nun einmal nicht führten und nicht zu bestimmen hatten? Denn es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden: Sie hatten zu diesem Zeitpunkt bereits viele erfolgreiche Fahrten in Eigenregie unternommen! Daher erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass sie in Anbetracht der kritischen Situation doch beherzt zur Schaufel gegriffen und in hohem Bogen Sand hinausbefördert haben.
Es ist eine Sache, sich mit Hilfe einer Zeitung in das Jahr 1911 zurückzuversetzen. Es ist etwas ganz anderes, sich in die Köpfe der Menschen hineinzudenken, die damals gelebt haben. Ich habe vielleicht schon eine grobe Ahnung davon, wie es sich im Deutschen Kaiserreich gelebt hat. Doch wie man respektive frau dachte und fühlte, dessen bin ich mir noch nicht zu 100% sicher.
Ich fand Margas und Ellis Geschichte nicht zuletzt deshalb so interessant, weil die beiden für die damalige Zeit ein so ungewöhnliches Leben geführt haben. Sie blieben zeitlebens unverheiratet und kinderlos und frönten stattdessen ihrer Outdoor- und Abenteuerbegeisterung.
Aber viele Fragen bleiben offen: Verfolgten sie die Entwicklungen in der Frauenbewegung? Wie viel lag ihnen an der Idee der Gleichberechtigung? War sie ihnen ein Stück weit egal, weil sie für sich selbst einen Weg aus der Enge ihres Alltags gefunden hatten?
Es gibt Momente, da verstehe ich meine Figuren noch nicht ganz. Denn so fortschrittlich und untypisch die beiden Frauen am Berg, im Ballon und in ihrem Alltag auch agiert haben, sie waren immer noch Kinder ihrer Zeit. Ohne Zweifel hatten sie sich gewisse Freiheiten erkämpft, doch es gibt immer wieder Momente, die bestätigen, wie sehr sie trotzdem im Denken des 19. Jahrhunderts verhaftet waren.
Vielleicht versteht man das besser, wenn man sich die Lage der Frauen damals noch einmal deutlicher vor Augen führt. Das wäre dann wohl der nächste Schritt…