Kategorien
STORYTELLING WERKSTATTBERICHT

Werkstattbericht: Was Frauen wollen

Ich weiß, der Titel ist gewagt. Kann eine Frau denn wissen, was alle Frauen wollen? Natürlich nicht. Trotzdem bin ich im Verlauf meiner Recherchen in ein Fahrwasser geraten, das ein gewisses Maß an Verallgemeinerung geradezu verlangt. Und ich habe nach einem kurzen Protest meinen inneren Frieden damit gemacht, wohlwissend, dass diese Verallgemeinerungen für mich nur die Vorstufe einer detaillierten Charakterzeichnung sein werden.

Das klingt alles sehr theoretisch. Werden wir also konkret. Beginnen wir damit, was eine Frau (also ich) wollte, als sie anfing, an dem Projekt zu arbeiten: Sie wollte eine Abenteuergeschichte schreiben. Eine Geschichte über die Berge und das Ballonfahren und über zwei Frauen, die weit abseits der gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit ihren gemeinsamen Leidenschaft nachgehen.

Bei den ganzen Unbekannten, die ein solches Schreibprojekt mit sich bringt (Zeiten, die man nicht erlebt hat, Orte, an denen man nicht gewesen ist), war die größte Herausforderung, die beiden Schwestern als zwei eigenständige Frauen zu zeichnen. Nicht als hero und sidekick, sondern als zwei gleichberechtigte Figuren – genauso wie die Buchvorlage es eben vorgibt. Leider war das ein bisschen viel Harmonie für eine spannende Geschichte. Ich hatte zwei Figuren, die sich so ähnlich waren, dass sie genauso gut eine einzige hätten sein können. Also: zurück zur Recherche, neue Felder erschließen. Das Ganze nahm ein paar unerwartete Wendungen, soll heißen: Ich fand Dinge, die ich gar nicht gesucht hatte. Und somit zeigt sich wieder einmal wie sehr Figurenentwicklung und word building ineinandergreifen…

Back to the Drawing Board

Ich hatte versucht, das Thema „Frauenbewegung“ weitestgehend auszublenden, weil ich meiner Geschichte eigentlich keine politische Dimension hinzufügen wollte. Das lag nahe: Meine Protagonistinnen hatten sich in ihrem Erinnerungsbuch nie zu diesem Thema geäußert und ich wollte nichts hineinzwängen, dass nicht hineingehörte.Doch war es den beiden Abenteuerinnen wirklich egal gewesen, dass ihre Zeitgenossinnen für Gleichberechtigung, Wahlrecht und bessere Bildung für Frauen gekämpft hatten? Flüchteten sie vielleicht in ihre Abenteuer-Parallelwelt, um genau diesen Zwängen ihrer Zeit zu entgehen?

Ich habe den Eindruck, dass einige Abenteurer genau das tun, auch wenn sie es sich selbst nicht eingestehen würden. Aber für so feige hielt ich meine Protagonistinnen nun auch wieder nicht.

Fakt war: Die beiden Schwestern hatten den weitaus größten Teil ihres Lebens nicht in den Bergen, sondern in Meißen verbracht. Die Ältere unterrichtete Sprachen auf der Höheren Töchterschule, die Jüngere führte den gemeinsamen Haushalt. Vor diesem Hintergrund ist es extrem unwahrscheinlich, dass sie nichts von den immer lauter werdenden Protesten der Frauenbewegung mitbekommen haben sollten. Die Bildung gehörte schließlich zu ihren wichtigsten Themen – und als Lehrerin war Marga direkt betroffen.

Aber ich sollte wohl zunächst ein paar Worte darüber verlieren, welche Bildungswege Frauen damals prinzipiell offen standen.

Frauenbildung im Kaiserreich

Im Deutschen Kaiserreich war es jungen Frauen nicht möglich, das Abitur zu machen und ein Studium an einer Universität zu beginnen. Mädchen aus bessergestellten Bürgerfamilien konnten zwar die Höheren Töchterschulen besuchen, aber dort war nach der achten Klasse Schluss. Weitere Bildungswege für Frauen waren nicht vorgesehen. Kein Wunder, dass Gymnasien für Mädchen gefordert wurden.

Einige Frauen, die sich später in der Frauenbewegung engagierten, hatten zunächst den Lehrerinnenberuf angestrebt, weil sie hofften, sich auf diesem Wege weiterbilden zu können und finanziell unabhängig zu sein. Doch die Ausbildung im sogenannten Lehrerinnenseminar erfüllte nicht immer die großen Erwartungen.

Einen ungeschminkten Einblick gibt die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm in ihrem 1872 veröffentlichten Buch Was die Pastoren von den Frauen denken. Sie schreibt:

Ich habe zufällig mein Lehrerinnenexamen gemacht und kann
(…) die positivste Versicherung geben, daß, etwa 30 Gesangbuchlieder und eine entsprechende Anzahl Bibelsprüche abgerechnet, mein Wissen das Maß gewöhnlicher Elementarkenntnisse kaum überstieg und schwerlich den Bildungsstand eines Quartaners auf einem Gymnasium erreichte. Trotzdem war auf meinem Zeugnis zu lesen, daß ich zum Unterricht wohl befähigt sei. Zu gleicher Zeit mit mir machte eine junge Dame das Examen, die in dem Kampfe zwischen »mir« und »mich« durchaus noch nicht Siegerin geblieben war. Indessen sie bestand.

Hedwig Dohm: Was die Pastoren von den Frauen denken

Hedwig Dohm: Was die Pastoren von den Frauen denken
Das klingt nach Frust und Enttäuschung. Was ich voll und ganz nachvollziehen kann und was ich bei meiner Protagonistin Marga tatsächlich ein bisschen vermisse: Im Gegensatz zu Hedwig Dohm schien sie mit der Situation ganz zufrieden zu sein. Sie liebte es, Sprachen zu unterrichten, hatte sogar ein „Auslandssemester“ in Frankreich verbracht, stand finanziell auf eigenen Füßen und musste sich keinem Ehemann unterordnen, der ihr die abenteuerlichen Eskapaden in den Alpen womöglich noch untersagt hätte.

Aber in Bezug auf Frauenbildung war sie mit Sicherheit keine Revolutionärin und es würde sich falsch anfühlen, sie im Nachhinein zu einer zu machen. Ich glaube, sie hatte sich durch den Bergsport und die Ballonfahrten in den alteingesessenen Männerkreisen ein gewisses Standing erarbeitet und konnte dort „ihr Ding“ durchziehen – und das genügte. Andere Frauen hatten dieses Ventil nicht; umso lauter waren ihre Proteste.

Aber auch, wenn sich eine Frau nicht in der Frauenbewegung engagiert, kann sie von ihr „überrollt“ werden. Genau das ist meiner Protagonistin passiert:

Die Forderung nach besseren Bildungschancen für Mädchen führte in allen Teilen des Deutschen Reichs zu einer Schulreform und damit zur Abschaffung der Höheren Mädchenschule. Viele von ihnen wurden in Mädchengymnasien umgewandelt. Das war aber nur möglich, wenn der Lehrkörper entsprechend umstrukturiert und ergänzt wurde. Die Lehrerinnen, die ja selbst kein Abitur hatten, konnten wohl kaum junge Frauen zum Abitur führen. Marga Große unterrichtete nach der Reform also „nur“ noch an einer Volksschule. Französisch und Englisch, ihre Paradefächer waren dort völlig bedeutungslos. Darunter muss sie sehr gelitten haben. Die Folge war eine tiefe Lebenskrise.


Ich war mir zu Beginn der Recherche nicht bewusst, welches Ausmaß hinter ihrem persönlichen Drama steckte und konnte ihre Gefühle auch nicht nachvollziehen. Ich war noch nicht in der fremden Zeit angekommen. Aber es hat geholfen, einen Blick auf das große Ganze zu werfen und den Platz einer einzelnen Person darin zu finden. Für mich ist die fremde Zeit dadurch umso lebendiger geworfen – und was noch besser ist: ich entdeckte eine Möglichkeit, meine beiden Protagonistinnen voneinander abzugrenzen. (Aber das würde an dieser Stelle zu weit führen…)

Vieles, was heute für uns in Sachen „Frauenbildung“ selbstverständlich ist, (um noch einmal diesen antiquierten Begriff zu bemühen), nahm damals seinen Anfang.

Heute diskutieren wir noch immer über Chancengleichheit, wobei inzwischen weniger das Geschlecht, sondern die Herkunft ein entscheidender Faktor ist. Alles hat sich geändert und alles ist gleich geblieben?

Vor diesem Hintergrund ist es zumindest nicht völlig absurd, das Thema in einem historischen Gewand noch einmal anzusprechen. Vieles sieht man im Nachhinein klarer.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert