Wer sich mit dem Thema Storytelling beschäftigt, kommt nicht umhin, sich mit einem archaischen Konzept vertraut zu machen. Die Rede ist von der Heldenreise. Wer das Grundmuster einmal verinnerlicht hat, wird es in den verschiedensten Ausprägungen in Romanen, Filmen und Serien wieder erkennen. Viel ist darüber geschrieben worden und wer will, kann zum Beispiel bei Joseph Campbell und Christopher Vogler tiefer in die Materie eintauchen. Allen anderen genügt vielleicht auch ein Blick auf das bewährte Schaubild, das ich der Einfachheit halber hier verlinkt habe.
Meist wird das Konzept anhand von Spielfilmen untersucht und erläutert. Aber eigentlich müsste das Genre der Abenteuerdoku – das Genre, mit dem ich mich in den letzten zehn Jahren intensiv beschäftigt habe – geradezu prädestiniert dafür sein, das Grundmusters der Heldenreise auf sich anzuwenden. Stattdessen habe ich immer wieder festgestellt, dass es eben nicht funktioniert.
Die Frage ist: Warum?
Die Rahmenbedingungen scheinen doch auf den ersten Blick perfekt zu sein. Jemand begibt sich auf eine konkrete Reise. Er oder sie hat ein greifbares Ziel und kämpft mit sehr realen Hindernissen. Das Gefahrenpotenzial ist hoch – und die Fallhöhe doch auch, oder? Schließlich schweben die Held*innen die meiste Zeit in echter Lebensgefahr.
Doch nach einem kurzen Seitenblick auf das Schema der Heldenreise wird klar, dass im wahren Leben nicht alles genau nach „Plan“ verläuft, was zur Folge hat, dass hier und da einiges nicht passt: Zuweilen ist in der Geschichte der Ruf des Abenteuers kaum zu hören, viele Probleme lassen sich am besten durch Nichtstun lösen (ein No-Go) und nur sehr selten wird unseren echten Held*innen übernatürliche Hilfe zuteil. Zwar lässt sich die Heldenreise noch immer erahnen, sie wirkt aber ziemlich unvollständig. Ich dachte lange, dass genau das das Problem wäre. Mittlerweile glaube ich:
Es liegt an den falschen Vorzeichen.
Im Abenteuer-Spielfilm begibt sich der Held auf eine Reise. Eigentlich will er das nicht, aber es muss.
In der Abenteuerdoku begibt sich die Heldin ebenfalls auf eine Reise. Eigentlich muss sie das nicht, aber sie will.
Damit steht das ganze Unternehmen von Anfang an unter einem völlig anderen Vorzeichen. Denn im Gegensatz zu fiktiven Figuren handeln reale Abenteurer*innen aus freien Stücken. Das soll ihre Leistung in keinster Weise schmälern. Aber sehr oft gibt es eben kein Problem, keinen Konflikt und einen daraus resultierenden äußeren Zwang, etwas zu tun müssen. Dieses in der Geschichte nicht vorhandene Grundproblem hat einen entscheidenden Einfluss auf die Dramaturgie – aber bleiben wir noch für einen Moment bei den Akteuren.
Die Abenteuer*innen sind sich ihrer Freiheit oder der Freiwilligkeit ihrer Handlungen stets bewusst, weshalb ich an dieser Stelle gerne noch einmal den berühmten Buchtitel des französischen Alpinisten Lionel Terray zitieren möchte, der seit über 60 Jahren immer wieder als Definition für das Bergsteigen herhalten muss. Ich glaube, dass man diese Definition auch auf sämtliche Spielformen des Abenteuers ausweiten kann. Lionel Terray bezeichnete die Bergsteiger als Les Conquérants de l’inutile, was so viel heißt wie Die Eroberung des Unnützen.
Echte Abenteur*innen nehmen sich die Freiheit, etwas zu erobern, das niemandem etwas nützt – mit Ausnahme ihrer selbst. Doch wo keine wirkliche Notwendigkeit besteht, kann eine Geschichte kaum ins Rollen kommen. Trotzdem gibt es eine ganze Reihe von Abenteuerdokus, die uns auch in Abwesenheit eines Grundproblems in ihren Bann ziehen. Ich glaube, das liegt an dem Setting, in dem wir uns in diesen Filmen bewegen, und an den beiden undurchschaubaren Gegnern, die immer wieder für Überraschungen sorgen.
It’s man vs. nature
Die Abenteuerdoku kann mit einem ganz entscheidenden Vorteil aufwarten, den viele andere Erzählungen nicht haben: Sie präsentiert stets ein anschauliches Ziel. Hohe Berge wollen bestiegen, stürmische Ozeane überquert werden. Auf ihrem Weg ans Ziel sind die Held*innen zwangsläufig die ganze Zeit in Bewegung. Und die ständig wechselnde Umgebung hält auch uns Zuschauer*innen bei der Stange. Wir wollen wissen, was hinter der nächsten Wegbiegung lauert. Aber es fällt uns schwer, Mutmaßungen für den weiteren Verlauf der Geschichte aufzustellen – weil unser erster Gegner unpersönlich und noch dazu launisch ist. Die Rede ist von der Natur.
Die Natur ist ein schwieriger Antagonist. Sie hat keine Agenda. Manchmal macht sie den Held*innen das Leben zur Hölle, manchmal mutiert sie unversehens zum Helfer. Das Gelingen des Unternehmens ist in letzter Konsequenz immer von ihrem „Wohlwollen“ abhängig. Das bedeutet: Unsere Held*innen, egal wie aktiv sie auch sind, haben ihr Glück nicht komplett selbst in der Hand. Sie können alles richtig machen und trotzdem scheitern. Einen Gegner, den man nicht einschätzen kann, kann man auch nicht besiegen.
Erschwerend kommt hinzu, dass unsere Held*innen auch zuweilen gegen sich selbst kämpfen. Da werden nicht nur körperliche Grenzen ausgelotet. Da sitzt das Problem auch manchmal im Kopf, in der eigenen Psyche – und ist damit sehr weit davon entfernt, anschaulich zu sein. Wenn man so will, ist der zweite Gegner, der in einer Abenteuerdoku auftreten kann, noch furchteinflößender als der erste: Man sieht ihn nicht einmal.
It’s plot vs. episode
In einer Abenteuerdoku gibt es also ein klares Ziel, aber keine Notwendigkeit. Wir sind zwar mit mächtigen Gegnern, konfrontiert, aber sie haben keine Agenda, sind undurchschaubar oder unsichtbar. Innerhalb eines solchen Rahmens kann es keinen stringenten Plot geben. Deshalb sind viele Abenteuerdokus eine lose Aneinanderreihung spannender Episoden, aufregend genug, um die Zuschauer*innen zu fesseln, aber ohne inneren Zusammenhang.
Ein Plot wird durch Kausalzusammenhänge bestimmt. Es handelt sich um ein Netz von Abhängigkeiten. Jeder Figur hat eine eigenes Ziel, und im besten Falle kollidieren diese alle miteinander und treiben die Geschichte immer wieder ein Stückchen voran. Dabei kommt es nicht auf die Menge der Figuren an. Schon zwei Personen mit unterschiedlichen Standpunkten können eine spannende Geschichte erzählen, selbst wenn sie dabei auf einer einsamen Insel festsäßen.
Doch in einer Abenteuerdoku haben die Mitglieder einer Expedition normalerweise alle das gleiche Ziel. Denn die Chancen ihr Ziel zu erreichen, werden höher, wenn sie sich gegen ihren übermächtigen Gegner Natur zusammenschließen. Wenn es Konflikte gibt, dann dauern sie nur sehr kurz an. Ein Streit, der die Gruppe entzweit, kann für einzelne Teammitglieder im schlimmsten Fall mit dem Tod enden.
Wenig Raum für zwischenmenschliche Konflikte bedeutet wenig gleichzeitig wenig Raum für Entwicklung. Die Protagonist*innen haben innerhalb dieses Rahmens in den allermeisten Fällen keine Chance eine grundlegende innere Wandlung durchzumachen. (Wie das Schema der Heldenreise es ja auch eigentlich fordert.) Am Ende der Reise sind sie die gleichen wie vorher – obwohl sie so weit gereist sind und so viel Neues kennengelernt haben. Es scheint, als würden die Eindrücke nur aufgesaugt und nicht verarbeitet, als würde das neu Gelernte zwar abgespeichert, aber nicht angewandt. Mit andern Worten: Stillstand. Ein Stillstand über den auch noch so viele Stempel im Pass nicht hinwegtäuschen können.
Aber: Muss das so sein?
Nach all diesen Überlegungen stelle ich mir die Frage: Sind alle Abenteuerdokus dazu bestimmt, sich von einer aufregenden Episode zur nächsten zu hangeln? Ist es vielleicht unmöglich, auch einen starken Plot in eine solche Geschichte zu integrieren?
Nein, dass ist es nicht. Auch eine Abenteuerdoku kann einen starken Plot haben. Diese Filme sind selten, aber es gelingt ihnen, der Reise über ihren Selbstzweck hinaus eine weitere Bedeutung zu geben. Sie wird zum Ausdruck der inneren Befindlichkeit der Protagonist*innen.
In der wunderbaren Segeldoku Maiden (2018) geht es nicht primär darum, um die Welt zu segeln und mit der ersten rein weiblichen Crew das Whitbread Round the World Race zu gewinnen. Es geht darum, der männlich dominierten Segelwelt zu zeigen, dass Frauen in diesem Sport genauso gut mithalten und auch gewinnen können. Nicht der unberechenbare Ozean ist hier der Hauptgegner. Die selbstbewusste Frauentruppe nimmt es mit der verschworenen Gemeinschaft der traditionellen Segelwelt auf. Hier haben wir ein abenteuerliches Setting, eine echte Mission und noch dazu einen konkreten Gegner. Ein solcher Film muss nicht episodisch erzählt werden.
Fazit:
Ob wirklich jede Abenteuergeschichte dieses Potenzial hat, kann ich noch nicht beurteilen. Darüber denke ich noch immer nach. Fürs Erste ist ganz hilfreich, ein Bewusstsein für den Mechanismus entwickelt zu haben. Nur was man verstanden hat, kann man auch anwenden.
Und weil er so schön ist, hier noch der Trailer zu Maiden.