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STORYTELLING WAS AUF DIE OHREN

Scriptnotes

So, eine Warnung vorweg: Dieser Podcast ist wirklich nur was für Drehbuch-Nerds. Leute wie ich, die als erstes fragen: Wer hat denn das geschrieben? Und nicht: Wer hat Regie geführt?


3. Scriptnotes

John August & Craig Mazin (seit 2011)

A podcast about screenwriting, and things that are interesting to screenwriters – so verkünden es John August und Craig Mazin jedenfalls zu Beginn jeder Scriptnotes-Episode. Seit 2011 reden die beiden Drehbuchautoren hier einmal pro Woche über ihren Job, das Schreiben und das Business. Und bei mittlerweile über 400 veröffentlichten Episoden werdet ihr mir verzeihen, dass ich diesen Podcast empfehle, obwohl ich nicht jede einzelne Folge gehört habe.

Trotzdem: In den allermeisten Folgen, die ich gehört habe, gelingt Scriptnotes der Spagat zwischen Theorie und Praxis ganz hervorragend. Ja, John und Craig können zuweilen lang und breit über Storytelling-Theorien philosophieren, schaffen es aber auch immer wieder, praktische Tipps zu geben. Ob man dabei etwas übers Schreiben lernt, kann ich nicht sagen. Man bekommt auf jeden Fall eine Menge Denkanstöße.

Man sieht nur, was man weiß.

Johann Wolfgang von Goethe

Ich kann inzwischen keinen Film/keine Serie mehr schauen, ohne gleichzeitig darüber nachzudenken, wie die Erzählung strukturiert ist. Das hat zu einem guten Teil mit diesem Podcast zu tun, der mich im Laufe der Zeit mal auf dieses, mal auf jenes Detail aufmerksam gemacht hat.

Natürlich könnte man das alles auch in der einschlägigen Literatur nachlesen. Aber dann würde man auch Johns und Craigs äußerst unterhaltsame Diskussionen verpassen. Und das wäre sehr schade.

Scriptnotes findet ihr auf der Website von John August und natürlich überall dort, wo es Podcasts gibt.

Die jeweils 20 neuesten Episoden sind kostenlos. Den gesamten back catalog kann man nur als Premium-User anhören. Allerdings habe ich entdeckt, dass John August einen Episodenklassiker – „Scriptnotes 73 – Raiders of the Lost Ark“ – auch auf YouTube hochgeladen hat. Das wäre für die meisten vielleicht ein ganz guter Einstieg. Wer hat diesen Film nicht gesehen?

Ein Bemerkung am Rande:

Warum zwei Autoren, die eigentlich wissen, wie man spannend erzählt, ausgerechnet einen Laber-Podcast machen, kann ich nur vermuten: Gutes Erzählen ist harte Arbeit, Labern macht einfach nur Spaß. Und es klingt so, als hätten sie beim Podcasten sehr viel Spaß.


Weitere Lieblingspodcasts:

SRF Krimi Podcast

Damit es in den nächsten Wochen nicht allzu zu besinnlich wird: ein Krimi-Podcast! Obwohl es davon ja recht viele gibt, habe ich den Eindruck, dass die überall aus dem Boden sprießenden True-Crime-Formate auf…

Blutiger Herbst

Im ersten Teil dieser Serie ging es zurück in die frühen 80er Jahre. Wir bewegten uns im Dreieck Hamburg, Stuttgart, Börnersdorf. Irgendwo zwischen Dichtung und Wahrheit. Allerdings mehr auf der Seite der Wahrheit.…

Faking Hitler

Es ist kein Geheimnis. Ich liebe Podcasts. Deshalb möchte ich hiermit einige Produktionen vorstellen, die ich besonders hörenswert fand. Den Anfang macht ein Podcast aus dem letzten Jahr: 1. Faking Hitler Stern (2019)…

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STORYTELLING WERKSTATTBERICHT

Werkstattbericht: Was Frauen wollen

Ich weiß, der Titel ist gewagt. Kann eine Frau denn wissen, was alle Frauen wollen? Natürlich nicht. Trotzdem bin ich im Verlauf meiner Recherchen in ein Fahrwasser geraten, das ein gewisses Maß an Verallgemeinerung geradezu verlangt. Und ich habe nach einem kurzen Protest meinen inneren Frieden damit gemacht, wohlwissend, dass diese Verallgemeinerungen für mich nur die Vorstufe einer detaillierten Charakterzeichnung sein werden.

Das klingt alles sehr theoretisch. Werden wir also konkret. Beginnen wir damit, was eine Frau (also ich) wollte, als sie anfing, an dem Projekt zu arbeiten: Sie wollte eine Abenteuergeschichte schreiben. Eine Geschichte über die Berge und das Ballonfahren und über zwei Frauen, die weit abseits der gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit ihren gemeinsamen Leidenschaft nachgehen.

Bei den ganzen Unbekannten, die ein solches Schreibprojekt mit sich bringt (Zeiten, die man nicht erlebt hat, Orte, an denen man nicht gewesen ist), war die größte Herausforderung, die beiden Schwestern als zwei eigenständige Frauen zu zeichnen. Nicht als hero und sidekick, sondern als zwei gleichberechtigte Figuren – genauso wie die Buchvorlage es eben vorgibt. Leider war das ein bisschen viel Harmonie für eine spannende Geschichte. Ich hatte zwei Figuren, die sich so ähnlich waren, dass sie genauso gut eine einzige hätten sein können. Also: zurück zur Recherche, neue Felder erschließen. Das Ganze nahm ein paar unerwartete Wendungen, soll heißen: Ich fand Dinge, die ich gar nicht gesucht hatte. Und somit zeigt sich wieder einmal wie sehr Figurenentwicklung und word building ineinandergreifen…

Back to the Drawing Board

Ich hatte versucht, das Thema „Frauenbewegung“ weitestgehend auszublenden, weil ich meiner Geschichte eigentlich keine politische Dimension hinzufügen wollte. Das lag nahe: Meine Protagonistinnen hatten sich in ihrem Erinnerungsbuch nie zu diesem Thema geäußert und ich wollte nichts hineinzwängen, dass nicht hineingehörte.Doch war es den beiden Abenteuerinnen wirklich egal gewesen, dass ihre Zeitgenossinnen für Gleichberechtigung, Wahlrecht und bessere Bildung für Frauen gekämpft hatten? Flüchteten sie vielleicht in ihre Abenteuer-Parallelwelt, um genau diesen Zwängen ihrer Zeit zu entgehen?

Ich habe den Eindruck, dass einige Abenteurer genau das tun, auch wenn sie es sich selbst nicht eingestehen würden. Aber für so feige hielt ich meine Protagonistinnen nun auch wieder nicht.

Fakt war: Die beiden Schwestern hatten den weitaus größten Teil ihres Lebens nicht in den Bergen, sondern in Meißen verbracht. Die Ältere unterrichtete Sprachen auf der Höheren Töchterschule, die Jüngere führte den gemeinsamen Haushalt. Vor diesem Hintergrund ist es extrem unwahrscheinlich, dass sie nichts von den immer lauter werdenden Protesten der Frauenbewegung mitbekommen haben sollten. Die Bildung gehörte schließlich zu ihren wichtigsten Themen – und als Lehrerin war Marga direkt betroffen.

Aber ich sollte wohl zunächst ein paar Worte darüber verlieren, welche Bildungswege Frauen damals prinzipiell offen standen.

Frauenbildung im Kaiserreich

Im Deutschen Kaiserreich war es jungen Frauen nicht möglich, das Abitur zu machen und ein Studium an einer Universität zu beginnen. Mädchen aus bessergestellten Bürgerfamilien konnten zwar die Höheren Töchterschulen besuchen, aber dort war nach der achten Klasse Schluss. Weitere Bildungswege für Frauen waren nicht vorgesehen. Kein Wunder, dass Gymnasien für Mädchen gefordert wurden.

Einige Frauen, die sich später in der Frauenbewegung engagierten, hatten zunächst den Lehrerinnenberuf angestrebt, weil sie hofften, sich auf diesem Wege weiterbilden zu können und finanziell unabhängig zu sein. Doch die Ausbildung im sogenannten Lehrerinnenseminar erfüllte nicht immer die großen Erwartungen.

Einen ungeschminkten Einblick gibt die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm in ihrem 1872 veröffentlichten Buch Was die Pastoren von den Frauen denken. Sie schreibt:

Ich habe zufällig mein Lehrerinnenexamen gemacht und kann
(…) die positivste Versicherung geben, daß, etwa 30 Gesangbuchlieder und eine entsprechende Anzahl Bibelsprüche abgerechnet, mein Wissen das Maß gewöhnlicher Elementarkenntnisse kaum überstieg und schwerlich den Bildungsstand eines Quartaners auf einem Gymnasium erreichte. Trotzdem war auf meinem Zeugnis zu lesen, daß ich zum Unterricht wohl befähigt sei. Zu gleicher Zeit mit mir machte eine junge Dame das Examen, die in dem Kampfe zwischen »mir« und »mich« durchaus noch nicht Siegerin geblieben war. Indessen sie bestand.

Hedwig Dohm: Was die Pastoren von den Frauen denken

Hedwig Dohm: Was die Pastoren von den Frauen denken
Das klingt nach Frust und Enttäuschung. Was ich voll und ganz nachvollziehen kann und was ich bei meiner Protagonistin Marga tatsächlich ein bisschen vermisse: Im Gegensatz zu Hedwig Dohm schien sie mit der Situation ganz zufrieden zu sein. Sie liebte es, Sprachen zu unterrichten, hatte sogar ein „Auslandssemester“ in Frankreich verbracht, stand finanziell auf eigenen Füßen und musste sich keinem Ehemann unterordnen, der ihr die abenteuerlichen Eskapaden in den Alpen womöglich noch untersagt hätte.

Aber in Bezug auf Frauenbildung war sie mit Sicherheit keine Revolutionärin und es würde sich falsch anfühlen, sie im Nachhinein zu einer zu machen. Ich glaube, sie hatte sich durch den Bergsport und die Ballonfahrten in den alteingesessenen Männerkreisen ein gewisses Standing erarbeitet und konnte dort „ihr Ding“ durchziehen – und das genügte. Andere Frauen hatten dieses Ventil nicht; umso lauter waren ihre Proteste.

Aber auch, wenn sich eine Frau nicht in der Frauenbewegung engagiert, kann sie von ihr „überrollt“ werden. Genau das ist meiner Protagonistin passiert:

Die Forderung nach besseren Bildungschancen für Mädchen führte in allen Teilen des Deutschen Reichs zu einer Schulreform und damit zur Abschaffung der Höheren Mädchenschule. Viele von ihnen wurden in Mädchengymnasien umgewandelt. Das war aber nur möglich, wenn der Lehrkörper entsprechend umstrukturiert und ergänzt wurde. Die Lehrerinnen, die ja selbst kein Abitur hatten, konnten wohl kaum junge Frauen zum Abitur führen. Marga Große unterrichtete nach der Reform also „nur“ noch an einer Volksschule. Französisch und Englisch, ihre Paradefächer waren dort völlig bedeutungslos. Darunter muss sie sehr gelitten haben. Die Folge war eine tiefe Lebenskrise.


Ich war mir zu Beginn der Recherche nicht bewusst, welches Ausmaß hinter ihrem persönlichen Drama steckte und konnte ihre Gefühle auch nicht nachvollziehen. Ich war noch nicht in der fremden Zeit angekommen. Aber es hat geholfen, einen Blick auf das große Ganze zu werfen und den Platz einer einzelnen Person darin zu finden. Für mich ist die fremde Zeit dadurch umso lebendiger geworfen – und was noch besser ist: ich entdeckte eine Möglichkeit, meine beiden Protagonistinnen voneinander abzugrenzen. (Aber das würde an dieser Stelle zu weit führen…)

Vieles, was heute für uns in Sachen „Frauenbildung“ selbstverständlich ist, (um noch einmal diesen antiquierten Begriff zu bemühen), nahm damals seinen Anfang.

Heute diskutieren wir noch immer über Chancengleichheit, wobei inzwischen weniger das Geschlecht, sondern die Herkunft ein entscheidender Faktor ist. Alles hat sich geändert und alles ist gleich geblieben?

Vor diesem Hintergrund ist es zumindest nicht völlig absurd, das Thema in einem historischen Gewand noch einmal anzusprechen. Vieles sieht man im Nachhinein klarer.

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STORYTELLING WAS AUF DIE OHREN

Blutiger Herbst

Im ersten Teil dieser Serie ging es zurück in die frühen 80er Jahre. Wir bewegten uns im Dreieck Hamburg, Stuttgart, Börnersdorf. Irgendwo zwischen Dichtung und Wahrheit. Allerdings mehr auf der Seite der Wahrheit.

Ein ähnliches Spannungsfeld hält auch die heutige Podcastempfehlung bereit, doch ich möchte meinen, dass wir hier einen deutlichen Hang zur dunklen Seite haben. Naja, es geht um… Spuk.


2. Blutiger Herbst –
Eine bayerische Geistergeschichte

(BR/Dlf Kultur 2019)

Quelle: BR / Hier findet ihr auch alle Teile zum Anhören

Eines vorweg: Dieser Podcast ist etwas für Freunde des gepflegten Grusels. Eingefleischte Horrorfans werden bei dieser Produktion die Schockmomente, die Liebhaber von Psychothrillern die menschlichen Abgründe vermissen. Denn es geht verhältnismäßig zahm zu bei dieser Geschichte aus dem Bayerischen Wald, 1975. Aber eben nicht ganz mit rechten Dingen…

Am Straßenrand is‘ a Frau g’standen. A weng a Oide mit’am schwarzen Gwand, un‘ weil’s g’regnet hod, hob i’s mitgnommen. Fui g’red hod’s ned, aber auf amol fängt’s an: „An guadn Frühling kriegn ma und an scheena Somma, aber an bluadigen Herbst.“ „Wia moanen’s denn jetzt des?“ I dreh mir zu ihr um. Und da is der Platz leer (…)

Blutiger Herbst #1 – Die Frau in Schwarz

Diese Geschichte soll vor rund 50 Jahren im Bayerischen Wald zugetragen haben – nicht nur einmal, sondern öfters. So oft, dass die „schwarze Frau“ noch heute vielen Menschen in der Gegend ein Begriff ist. Doch was steckte wirklich dahinter? Wie konnte eine so simple Gruselgeschichte ohne handfeste Beweise (abgesehen von ein paar angeblich „echten“ Fotos) so rasant an Fahrt aufnehmen, dass ihre Bremsspuren bis in die Gegenwart reichen? Darum geht es in der vierteiligen Podcast-Serie Blutiger Herbst: eine dokumentarische Spurensuche voller ungeahnter Wendungen. (Konnichiwa!) Zwar ohne Blut – soviel sei verraten – dafür aber mit viel Lokalkolorit.

Weil ich nicht spoilern will, werde ich es bei dieser knappen Beschreibung belassen. Wer mag, soll sich gern selbst ein bisschen gruseln. Blutiger Herbst findet ihr auf z.B. auf der Website des BR – und überall dort, wo es Podcasts gibt.


Und noch eine Bemerkung am Rande:

Gerne würde ich eine schlüssige Erklärung dafür liefern, warum ich ausgerechnet für diese Art von Geschichten ein besonderes Faible habe. Es gibt mit Sicherheit Wichtigeres auf der Welt als sich mit alten Spukgeschichten zu beschäftigen…

Vielleicht löse ich aber einfach nur gerne Rätsel?

Im Grunde genommen entspinnt sich jede Geistergeschichte um ein Rätsel. Der rational-aufgeklärte Mensch lässt aber gemeinhin auch bei den wundersamsten Ereignissen nur Lösungen innerhalb eines bestimmten Spielraums zu, nämlich eines solchen, der die Existenz von Geistern jeder Art konsequent verneint. Mit der üblichen Logik kommen wir also nicht mehr weit. Wir stehen vor einer besonderen Herausforderung.

Kleiner Exkurs: Ich finde es bezeichnend, dass sogar bei Vorzeige-Rationalist Sherlock Holmes in der Gruselepisode The Hounds of Baskerville (2012) erstmals eine Gefühlsregung durchbricht, die er sich unter normalen Umständen nie zugestehen würde: Er zweifelt an seinem eigenen Verstand, für ihn die absolute Horrorvorstellung…

Natürlich findet er wenige Stunden später wieder zu alten Größe zurück und löst das Rätsel um die „Hunde von Baskerville“ mit Bravour. In seiner – und übrigens auch in meiner Welt – muss es für jede Art von Spuk eine banale Erklärung geben.

Das verbindet uns auch mit dem BR-Reporter Johannes Nichelmann, der sich auf die Spuren der schwarzen Frau begeben hat. Auch er versucht die undichte Stelle einer gut gemachten Täuschung zu finden und – aber gut, ich wollte ja nicht spoilern…

Apropos:

Im Gegensatz zur Figur Sherlock Holmes glaubte sein Schöpfer Sir Arthur Conan Doyle sehr wohl an Geister, Feen und ähnliche übersinnliche Gestalten. Dies bewog ihn wohl auch, 1922 ein Foto der Cottingley Fairies in einem seiner Bücher abzudrucken.

Die Bilder, die zwei junge Mädchen zusammen mit einigen Feen zeigten, waren natürlich ein Fake. Immerhin ein gut gemachter, und das laaange vor Photoshop. So gesehen ist irgendeine Art von Bildmanipulation auch im Deutschland der 70er Jahre vorstellbar.

Es braucht nur das nötige Maß an Enthusiasmus. Und die Vorstellung, so viele Menschen zum Narren halten zu können, muss ungemein beflügelnd sein…

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STORYTELLING WAS AUF DIE OHREN

Faking Hitler

Es ist kein Geheimnis. Ich liebe Podcasts. Deshalb möchte ich hiermit einige Produktionen vorstellen, die ich besonders hörenswert fand. Den Anfang macht ein Podcast aus dem letzten Jahr:


1. Faking Hitler

Stern (2019)

Die angeblichen Hitler-Tagebücher sind ein unrühmliches Kapitel der deutschen Pressegeschichte. Von vorn bis hinten gefälscht und trotzdem für teures Geld vom Stern eingekauft, bescherte die Story dem Magazin im Jahr 1983 Rekordauflagen. Doch kurz nach der Veröffentlichung musste man sich der harten Realität stellen: Alles fake. Die 36 handgeschriebenen Kladden, die der Reporter Gerd Heidemann in der Redaktion abgeliefert hatte, stammten nicht aus der Feder von Adolf Hitler, sondern waren das Werk des Fälschers Konrad Kujau!

Diese absurde Geschichte rollt der Stern-Podcast Faking Hitler 35 Jahre nach dem Skandal mit einer 10-teiligen Serie und diversen Specials noch einmal minutiös auf. Ist es eine Art Vergangenheitsbewältigung oder der Versuch, den Fake im Zeitalter von fake news erneut zu vermarkten? Vermutlich beides. Lieber serviert man die eigene Version der Geschichte, bevor es sie von einem anderen geschrieben wird. Schließlich hat man wie vor den direktesten Zugriff auf die Tagebücher.

Doch das ist für den Podcast gar nicht so entscheidend. Wahres Podcast-Gold sind hingegen die Originalmitschnitte der Telefonate zwischen Gerd Heidemann und Konrad Kujau – trotz ihrer teilweise unterirdischen Tonqualität.

„Conny!“ – „Hmmm?“ – „Was ist los?“ – „Aaaach….“

Anders als Helmut Dietl, der 1992 in Schtonk! die markantesten Momenten des Skandals verdichtet und daraus eine Komödie zum Niederknien gestrickt hatte, kostet der Podcast das gesamte Ausmaß der Peinlichkeiten aus, indem er Experten und Zeitzeugen zu Wort kommen lässt. Dieser dokumentarische Ansatz könnte auf den ersten Blick langweiliger erscheinen. Ist er aber nicht. Denn wir nähern uns den Protagonisten auf einer sehr persönlichen Ebene. Es ist zwar nicht so, dass einen zwischen den Banalitäten des Alltags der „Eishauch der Geschichte anwehen würde“ (wie es in Schtonk! so schön formuliert wird), aber Kurzweil ist dennoch garantiert.

Es zeigt sich (wieder einmal): Die Realität ist absurder als man es sich in seinen kühnsten Träumen ausmalen könnte. Auch wenn der zeitliche Abstand zum Geschehen die Schmach nicht unbedingt mildert und es keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse gibt, die den Skandal heute in einem neuen Licht erscheinen lassen – der Skandal um die Hitler-Tagebücher ist und bleibt eine gute Geschichte.

Es ist keine Überraschung, dass jemand wie ich, der eine eindeutige Schwäche fürs Narrative hat, genau zu diesem Schluss kommt. Ihr seht mich grinsen. Doch in der Geschichte ist noch soviel mehr zu entdecken. Also: Gerne reinhören und eigene Meinung bilden!

Faking Hitler findet ihr auf Apple Podcast, Spotify und überall dort, wo es Podcasts gibt.


Und noch eine Bemerkung am Rande:

Bin ich die Einzige, die die Intromelodie des Podcasts an folgenden legendären Track aus Mary Poppins erinnert? Die Ironie des Schicksals: Irgendwas bleibt immer kleben… Fragt sich nur, wer Glück hatte.

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POST-IT

København

Diese Woche hat mich Facebook freundlicherweise daran erinnert, dass ich vor zehn Jahren einmal in Kopenhagen war. Eine tolle Stadt. Ziemlich durchgestylt – so sehr, dass es schon damals als Brutstätte des weltweiten Hipstertums hätte durchgehen können… Aber wer will das schon beurteilen?

Geblieben sind eine Reihe von Digitalfotos der ersten Stunde und schöne Erinnerungen. Es war der EM-Sommer 2010 und Spanien hatte es sich nicht nehmen lassen, Deutschland mit einem furiosen 1:0 im Halbfinale aus dem Turnier zu kicken.

Das Spiel war insofern verrückt, als ich beim Public Viewing die Jazzpianistin und Sängerin Johanna Borchert kennen lernte und am darauffolgenden Abend spontan ein Konzert besuchte, das sie mit ihrer damaligen Band Little Red Suitcase in einer kleinen Location in der Nähe des Hafens spielte.

Ein Lied hatte faktisch Ohrwurmcharakter (Well, I Don’t Care – kann man hier nachhören) und das war auch immer der Sound, den ich mit dieser Stadt verband, bis sich ein anderes Lied in den Vordergrund drängte: København von Ulige Numre (lies: Köbenhavn von Uhli Nummer ;-))

København kam 2011 heraus und löste einen regelrechten Hype in Dänemark aus. Aber wie das so ist… auch diese Band hat sich inzwischen aufgelöst. Immerhin macht Frontmann Carl Emil Petersen solo weiter.


Wir lernen: Nichts bleibt für die Ewigkeit. Obwohl – der Hoptimist (siehe oben), den ich damals gekauft habe, der steht noch immer auf meinem Schreibtisch und nickt im Takt wenn ich tippe…

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POST-IT

Spinnenliebe

Meine achtbeinige Freundin* und ich, wir haben einen Deal. Sie bleibt draußen und kommt nicht rein, und ich bleibe drinnen und komme nicht raus. Das funktioniert soweit ganz gut. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir uns wirklich richtig verstehen. Wenn ich ihr Netz zum Beispiel entfernen würde, – meinerseits ein „eindeutiges“ Zeichen an sie, gefälligst zu verschwinden – verstünde sie es am Ende als Einladung, ein neues Netz zu weben und zu bleiben?

*) Nicht im Bild zu sehen: Gerda ist leider etwas kamerascheu. Außer wenn’s draußen dunkel ist – aber dann kommt dann mein lichtschwaches Objektiv an seine Grenzen.


Nachtrag, 13. Juli.

Heute hab ich sie erwischt. Voilà:

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OKTAVHEFT

Kolumbusplatz

Die U-Bahn ist kein Ort, den ich oft und gern frequentiere. Trotzdem ist mir nicht entgangen, dass sich an meiner Station vor ein paar Tagen ein Aktivist mit einer Sprühdose ausgetobt hat. Denn damit kann man ja so richtig schön ein Zeichen setzen – und den Kolumbus quasi vom Platz fegen.

Brauchen wir einen neuen Namen?

Der U-Bahnhof Kolumbusplatz wurde 1980 eröffnet. Ich wohne seit etwa 10 Jahren hier und habe bislang nicht beobachtet, dass dieser Name irgendjemandem sauer aufgestoßen wäre…

Allerdings: Was sind schon ein paar Schmierereien im Gegensatz zu den Denkmälern, die zur Zeit überall in den USA gestürzt werden? Eines steht fest: #blacklivesmatter ist unverkennbar auch in meinem Viertel angekommen.

Stellt sich die Frage: Was ist falsch an unserem Bild von Kolumbus, dem großer Entdecker, der im Auftrag der spanischen Krone aufs Meer hinaus segelte, um den Westweg nach Indien zu finden, letztendlich aber einen völlig neuen Kontinent erreichte, mit dem er nicht im Traum gerechnet hatte?

Unser Problem ist: Das allgemeine Bild ist unvollständig und die Sichtweise einseitig. Kolumbus als „Entdecker der Neuen Welt“ zu bezeichnen, auf diese Idee können nur Europäer kommen. Die dort lebenden indigenen Völker haben seine Ankunft an ihren Gestaden mit Sicherheit anderes wahrgenommen.

Der Erstkontakt mit der einheimischen Bevölkerung verlief nach den Angaben von Kolumbus friedlich. Doch ein respektvoller Kontakt auf Augenhöhe war es nicht. Was mit Landnahme und dubiosen Tauschgeschäften begann, gipfelte schließlich in einem internationalen Sklavenhandel. Somit ist nachvollziehbar, dass man Kolumbus auch als Rassisten bezeichnen kann.

Kein Platz für Rassisten

Das ist die Botschaft. Prinzipiell würde ich da zustimmen. Aber sollte man den Platz deshalb umbenennen?

Umbenennen hieße: Wir nehmen den Protest der Aktivisten ernst und reagieren darauf. Wir lassen nicht mehr zu, dass öffentlicher Raum zum Andenken an eine Person benutzt wird, die vor vielen hundert Jahren einmal rassistisch gehandelt hat.

Es hieße aber auch: Ein Name verschwindet. Und damit auch eine Warnung. Ein Reminder. Eine Möglichkeit, sich selbst immer wieder vor Augen zu führen, was falsch und was richtig ist.

Der Platz soll seinen Namen ruhig behalten. Lieber soll sich alle paar Jahre jemand darüber aufregen und seiner Wut mit eine Sprühdose Erleichterung verschaffen, als dass dieses so wichtige Thema langsam aber sicher in Vergessenheit gerät.

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STORYTELLING WERKSTATTBERICHT

Werkstattbericht: Sturzfahrt

Ich hatte nie vor, meine beiden Heldinnen als „damsels in distress“ zu zeigen. Aber genau das ließ sich nicht vermeiden, als ich die Meldung aus dem Namslauer Stadtblatt zitierte… Was war noch mal passiert? Ein Ballon stieg auf und stürzte beinahe ab – und mit von der Partie waren eben auch zwei Damen, die aber glücklicherweise gerettet werden konnten.

Seien wir ehrlich: Welche Leserin, welcher Leser des Jahres 1911 hätte ernsthaft angenommen, dass sich zwei weibliche Geschöpfe selbstständig aus so einer Situation hätten befreien können? Natürlich musste die gefährliche Sturzfahrt durch den heldenhaften Einsatz der beiden anwesenden Männern aufgehalten worden sein.

Ich weiß, das steht nicht da. Aber ich wage zu behaupten: Das musste man auch nicht hinschreiben…

Die „Momentaufnahmen“ aus dem Namslauer Stadtblatt haben uns zwar einen ersten Einblick gegeben, wie sich das Leben anno 1911 angefühlt hat. Da ich aber die Geschichte zweier Frauen erzählen will, werde ich nicht umhin kommen, mich um eine weiblichere Perspektive zu bemühen und sollte in diesem konkreten Fall Marga selbst zu Wort kommen lassen:

Auf eine lange, weite Hochgebirgsfahrt hatten wir gehofft – doch wehte fast kein Wind. Nur in großer Höhe – ich schätze um 4000 Meter – hatten Elli und ich ganz früh am Morgen an einem Wölklein über der Nordkette Nordströmung wahrgenommen. Wir wären darum gern sofort hochgestiegen, um die Strömung auszunutzen. Da wir aber nicht führten, hatten wir nicht zu bestimmen.

Margarete Große: Frauen auf Ballon- und Bergfahrten

Oha. Und offenbar gab es auch nichts zu diskutieren. Kein Wort darüber, dass man mit den beiden Herren gesprochen und ihnen die eigenen Beobachtungen und Ideen mitgeteilt hätte. Stattdessen nur vornehmes Schweigen – was zur Folge hatte, dass der Ballon etwa drei Stunden lang über dem Fallbachkar im Karwendel dahindümpelte.

Als man endlich höher hinaufstieg, waren die Ballastvorräte bereits gefährlich zusammengeschmolzen. Ein Wolkenschatten – und damit eine kühlere Luftschicht – lösten dann die Sturzfahrt aus, die vom Tal aus beobachtet wurde und besagte Rettungsmannschaft zum Abmarsch veranlasste. In Margas Erinnerungen stellt sich die Situation weit weniger dramatisch dar:

Einmal machten wir sogar – unfreiwillig, durch Sturz infolge Wolkenschattens – einen kurzen Ausflug, besser Einflug in das Gebiet der Wechselscharte – : wildes Emporschießen der Zacken und Wände um uns her! – Sand, Sand! – Und wir stiegen wieder. Die richtige Vorstellung der Wildheit der Gegend hatten wir nun erst gewonnen! Dazu nach der Vorhersage Gewitterneigung! (…)

Margarete Große: Frauen auf Ballon- und Bergfahrten

Vielleicht ist das nur meine Lesart, aber ich glaube, dass sie sogar ein bisschen Spaß hatte, als es urplötzlich nach unten ging und die bis dahin recht träge Ballonfahrt doch noch etwas Abwechslung bekam. Auch ihr Schreibstil ändert sich unwillkürlich. Er wird kürzer und abgehakter: Einschübe, unvollständige Sätze, übermäßiger Gebrauch des Ausrufungszeichens! Wir sind hier mittendrin und live dabei. Doch leider bleibt so eine Information auf der Strecke: Wer warf den rettenden Ballast eigentlich ab?

Es muss sich beim Ballon „Tirol“ übrigens um einen Gasballon gehandelt haben, der sich nur durch Abgabe von Ballast in der Höhe regulieren ließ. Wahrscheinlich fuhren die Damen immer im Gasballon, denn an keiner einzigen Stelle im Buch wird irgendein Brenner betätigt (wie man es vielleicht von einem klassischen Heißluftballon kennt) um wieder an Höhe zu gewinnen.

Hier haben wir einen Moment, in dem die Erzählung unscharf wird und Interpretationen erlaubt. Wie haben die beiden Frauen wohl reagiert?

Haben sie es dem Ballonführer überlassen, Ballast abzuwerfen und sich wider besseren Wissens zurückgenommen, weil sie nun einmal nicht führten und nicht zu bestimmen hatten? Denn es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden: Sie hatten zu diesem Zeitpunkt bereits viele erfolgreiche Fahrten in Eigenregie unternommen! Daher erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass sie in Anbetracht der kritischen Situation doch beherzt zur Schaufel gegriffen und in hohem Bogen Sand hinausbefördert haben.


Es ist eine Sache, sich mit Hilfe einer Zeitung in das Jahr 1911 zurückzuversetzen. Es ist etwas ganz anderes, sich in die Köpfe der Menschen hineinzudenken, die damals gelebt haben. Ich habe vielleicht schon eine grobe Ahnung davon, wie es sich im Deutschen Kaiserreich gelebt hat. Doch wie man respektive frau dachte und fühlte, dessen bin ich mir noch nicht zu 100% sicher.

Ich fand Margas und Ellis Geschichte nicht zuletzt deshalb so interessant, weil die beiden für die damalige Zeit ein so ungewöhnliches Leben geführt haben. Sie blieben zeitlebens unverheiratet und kinderlos und frönten stattdessen ihrer Outdoor- und Abenteuerbegeisterung.

Aber viele Fragen bleiben offen: Verfolgten sie die Entwicklungen in der Frauenbewegung? Wie viel lag ihnen an der Idee der Gleichberechtigung? War sie ihnen ein Stück weit egal, weil sie für sich selbst einen Weg aus der Enge ihres Alltags gefunden hatten?

Es gibt Momente, da verstehe ich meine Figuren noch nicht ganz. Denn so fortschrittlich und untypisch die beiden Frauen am Berg, im Ballon und in ihrem Alltag auch agiert haben, sie waren immer noch Kinder ihrer Zeit. Ohne Zweifel hatten sie sich gewisse Freiheiten erkämpft, doch es gibt immer wieder Momente, die bestätigen, wie sehr sie trotzdem im Denken des 19. Jahrhunderts verhaftet waren.

Vielleicht versteht man das besser, wenn man sich die Lage der Frauen damals noch einmal deutlicher vor Augen führt. Das wäre dann wohl der nächste Schritt…

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STORYTELLING WERKSTATTBERICHT

Werkstattbericht: Zeitreise

Ich habe in den letzten Wochen festgestellt, dass Zeitreisen besonders sehr sind, wenn draußen strenge Ausgangsbeschränkungen herrschen – und dass ich dafür nicht viel mehr brauche als eine alte Zeitung. Dabei beschäftigte mich eigentlich nur die folgende Frage: Waren meine beiden abenteuerbegeisterten Meißener Schwestern jemals öffentlich in Erscheinung getreten?

Es stellte sich heraus: Sie waren…

In einer kleinen Notiz auf Seite 6 des Namslauer Stadtblattes vom 8. August 1911 wurde von einem Beinahe-Ballon-Unglück in der Nähe von Innsbruck berichtet, das Marga auch in ihren Erinnerungen beschreibt.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich die kleine Meldung endlich auf der letzten Seite in der Rubrik Vermischtes entdeckt hatte. Einem ersten Faktencheck war damit vorerst genüge getan. Mehr noch, diese eng gedruckten Zeilen hatte mich ganz unverhofft in eine andere Zeit und an einen anderen Ort versetzt. Ein weiterer positiver Nebeneffekt: Ich jetzt wesentlich besser Fraktur lesen kann als vorher.

In Innsbruck stieg der Ballon „Tirol“ mit Oberleutnant Cajanek von der Luftschifferabteilung in Trient als Führer, den Damen Margarete und Elisabeth Große aus Meißen sowie Generalmajor Janitschek als Insassen morgens auf. Um die Mittagszeit wurde von Innsbruck aus beobachtet, dass der Ballon zwischen den Mohrenköpfen und den Neunerspitzen rapid niederging. Da man ein Unglück vermutete, ging von Innsbruck einen Sanitätsmannschaft ab. Es stellte sich dann jedoch heraus, dass der Ballon Ballastmangels wegen mitten im Gebirge die Landung hatte vornehmen müssen, die zwar schwierig, aber glücklich vonstatten ging.

Namslauer Stadtblatt, 8. August 1911

Wo liegt denn eigentlich Namslau?

Das ist nämlich gar nicht so leicht. Und wenn man keine Übung darin hat, kommt es schon mal vor, dass man ein „R“ mit einem „N“ verwechselt… Nun, nachdem ich festgestellt hatte, dass es Ramslau ganz offensichtlich nicht gab, versuchte ich stattdessen, Namslau zu verorten. Ich wurde fündig. Allerdings nicht einmal annähernd in der Nähe von Innsbruck.

Kleiner Exkurs: Namslau heißt heute Namysłów und liegt in Polen. In einer Gegend, die früher Schlesien genannt wurde und einmal zu Deutschland gehörte hatte. Wohlgemerkt: Wir reden hier vom Deutschen Kaiserreich und den Grenzen von 1871. Als nach dem 1. Weltkrieg der Versailler Vertrag 1920 in Kraft trat, befand sich Namslau dann auf polnischem Gebiet. Mit dem Überfall auf Polen 1939 wurde die Stadt erneut deutsch, ab 1945 dann wieder polnisch. Und die deutsche Bevölkerung wurde vertrieben. Hier spielten sich einige der umrühmlichsten Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte ab. Aber all das ahnte dort ja noch niemand, im August 1911.

Namysłów und Innsbruck sind heute gut 940 Kilometer und 9 Autostunden voneinander entfernt. 1911 war es gefühlt noch ein bisschen weiter. Denn man reiste langsamer.

Für die Tatsache, dass eine Namslauer Zeitung über eine missglückte Innsbrucker Ballonfahrt berichtet, habe ich nur eine einzige Erklärung: Es muss sich um eine außergewöhnliche Kuriosität gehandelt haben. Entweder, weil das angebliche Unglück gar keiner war – oder aber weil zwei Frauen mit von der Partie gewesen waren!


Die Reise geht noch weiter.

Eigentlich wollte ich ja nur bis Innsbruck. Aber dann landete ich in Namslau. Und als ich dort ankam, war auch Afrika nicht mehr weit. Ich kann es nicht leugnen, das verflixte Stadtblatt hatte meine Neugier geweckt. Was war am 8. August 1911 sonst noch an der Tagesordnung gewesen?

Gleich auf der ersten Seite springt mir eine vornehme Headline ins Auge: Das französische Kongogebiet. Man berichtete von den deutsch-französischen Verhandlungen über den Kongo und Marokko. Fazit: Koloniales Territorialgeschacher, befremdlich und beschämend.

Der nächste Artikel widmet sich dem deutschen Kaiser Wilhelm II. und seinen Lieben. Es wird berichtet, der Kaiser habe bei einem Jagdausflug auf dem schlesischen Schlosse Klitschdorf zwei kapitale Hirsche erlegt und auf der Heimfahrt „ein so langsames Automobiltempo eingeschlagen“, dass „es jedem Einzelnen (…) möglich war, den Kaiser genau zu sehen“. Während er „recht gebräunt und gesund“ aussah und „ausdauernd für die ihm dargebrachten Huldigungen“ dankte, hütete seine Frau Gemahlin auf Schloss Wilhelmshöhe mit einer kaiserlichen Mandelentzündung das Zimmer. Der Kronprinz war inzwischen zur Steinbockjagd ins Aostatal aufgebrochen.

Hatten die Redakteure hier ein Sommerloch zu füllen oder war dies wirklich das, was die Menschen an erster Stelle unter der Headline Politische Übersicht lesen wollten? Wären diese Infos nicht eher ein Fall für die Regenbogenpresse gewesen? Ja, wenn es die damals schon gegeben hätte! Eigentlich schade – bei den ganzen Königshäusern.

Vielleicht war es wirklich eine Sensation, dass der Kaiser seine Sommerfrische in Schlesien verbrachte. (Wir erinnern uns, was in Altötting los war, als der Papst einmal nach Bayern kam!) Und die Menschen, die ihm zujubelten? Die meisten hatten vom Kaiser wohl nie mehr als ein Foto gesehen. Berlin war weit weg und es gab noch keinen Fernseher, indem man seine Auftritte allabendlich hätte verfolgen können.


Momentaufnahmen anno 1911

Keine Angst, ich werde es euch ersparen, hier die ganzen sechs Seiten zu rezitieren. Das wäre in der Tat ein bisschen mühsam. Vielleicht bin in ja auch die Einzige, der sich bei der Lektüre einer alten Zeitung buchstäblich eine ganze Welt auffaltet. Für mich wird die Geschichte zwischen diesen Zeilen jedenfalls wieder lebendig. Und das muss sie auch, damit ich mich in meine Story hineinfühlen kann.

Wenn ich wissen will, wie sich das Leben vor 100 Jahren abgespielt hat, brauche ich Quellen, die nicht schon durch drei Hände gegangen sind – sonst werden am Ende immer nur die gleichen Klischees weitergegeben. Und eine altes Namslauer Stadtblatt scheint mir für diese Recherchen eine zumindest eine solide Basis zu sein: Die Rubrik Vermischtes mit ihren Momentaufnahmen aus dem vergangenen Jahrhundert sollte sich als wahre Goldgrube erweisen.


Juwelendiebe & „wohlwollende“ Einbrecher

Es zeigte sich, dass Katastrophen wohl seit jeher von Interesse gewesen sind. Der Sensationsjournalismus ist damit älter als ich dachte: „Bootsunglück auf Rügen“, „Vater und Kind ertrunken“, „Hochwasser in Sicht!“, „Mühlenbrand in Bernburg“, „Waldbrand bei Innsbruck“, „Sturz vom Dache in Berlin“ und „Absturz im Grödner Tal“. In Hinschenfelde (damals noch bei Hamburg) flog ein Kessel in die Luft, in der Türkei explodierte das Pulvermagazin eines jüdischen Pulverfabrikanten während einer Hochzeitsfeier in ein Valenzia stürzte ein Teil einer alten Festung ein und begrub 30 Häuser unter sich.

Aber: Da sind keine Autounfälle, keine Flugzeugabstürze, keine Terroranschläge, keine Kindesentführungen… Ich sage nicht, dass es deswegen besser war. Es war bloß anders. Und doch gibt es vieles, das sich anscheinend nie ändert:

„Vorsicht beim Genuß vom Obst!“, „Zur Warnung: Die Unsitte, Kindern das Spielen mit Streichhölzern zu leicht zu machen, hat wieder ein Opfer gefordert.“, „Schwerer Unfall während einer Schießübung“, „Verrat militärischer Geheimnisse“. Illegale Informationsbeschaffung steht wohl seit jeher hoch im Kurs. Womit wir bei den kriminellen Handlungen angelangt wären.

Aus Breslau wird gemeldet: Ein „Werber für die Fremdenlegion (…) machte sich an einen etwa 15 Jahre alten Schüler heran, den er verleitete, sich eine Summe Geldes anzueignen und (…) nach der Schweiz und sodann nach Marseille zu reisen.“ Kindern und Jugendliche Waffen in die Hand zu drücken ist ein Übel, das bis heute nicht aus der Welt geschafft werden konnte.

Immerhin war man in Königswusterhausen auf der Spur der Berliner Juwelendiebe. ( Juwelendiebe!) In Schwerin konnten Raubmörder ergriffen werden, ein Breslauer Student der Zahnheilkunde wurde des Mordes mit Chloroform überführt und in Berlin flog ein Bankschwindel durch eine gefälschte Unterschrift gerade noch rechtzeitig auf. Weniger Glück hatte die Reichsbank in Petersburg, die ihrer Filiale in Chabarowsk ein Geldpaket mit 200 000 Rubel geschickt hatte. Denn anstatt des Geldes kamen beim Öffnen des Pakets nur gewöhnliche Papierschnipsel zum Vorschein.

In Berlin waren die Kriminellen „wohlwollender“:

Ein Gastwirt in der Reichenbergerstraße wurde kürzlich von Einbrechern heimgesucht. Während er unten im Geschäft zu tun hatte, räumten sie ihm oben im ersten Stock die Wohnung aus und nahmen für 1000 Mark Kleidungsstücke und Wertgegenstände mit. Aber die Diebe waren wenigstens einigermaßen rücksichtsvoll und wohlwollend. Sie versetzten zwar ihre Beute, sandten aber dem Bestohlenen wenigstens die Pfandscheine zu. Wenn er ein kleines Opfer bringen will, kann er also wieder zu seinem Eigentum kommen!

Namslauer Stadtblatt, 8. August 1911

Herrlich! Auch wenn all dies nicht Weltbewegendes ist: ein vergangenes Jahrhundert wird allemal wieder lebendig. Vor allen Dingen seine Schattenseiten. Die Sonnenseiten muss ich wohl noch suchen…

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STORYTELLING WERKSTATTBERICHT

Werkstattbericht: Relevanz

Ich gehe schon seit einiger Zeit mit einer Geschichte schwanger, die sich vor gut hundert Jahren zugetragen hat. In dieser Geschichte übers Ballonfahren (und Bergsteigen) dreht sich alles um zwei Schwestern aus Meißen, die wild entschlossen ihre Röcke rafften und sich ins Abenteuer stürzten. Und das war im Deutschen Kaiserreich alles andere als normal.

Frau trug damals noch Korsett, trieb keinen Sport, dufte nicht wählen und es gab vielleicht eine Handvoll Berufe, die sie ausüben konnte – und das auch nur, bis sie endlich (gottlob!) verheiratet war.

Diese Zeiten sind vorbei – und das ist auch gut so. Warum liegt mir also soviel daran, mich gedanklich in das vergangene Jahrhundert und auf die Spuren zweier Frauen zu begeben, von denen nicht sehr viel mehr überliefert ist als ein mehr oder weniger wild zusammengewürfeltes Erinnerungsbuch mit ihren Berg- und Ballonabenteuern? Was hätten uns Marga und Elli Große heute noch zu sagen?

Ok. Reden wir über Relevanz.

Vielleicht hätte diese Geschichte mein Interesse gar nicht geweckt, wenn es nicht eine Stelle in besagtem Buch gegeben hätte, die mir seltsam vertraut vorkam… Doch bevor wir dazu kommen, möchte ich, dass ihr euch in die folgende Situation versetzt:

Wir befinden uns im Jahr 1911.

Irgendwo in Ungarn. Die Damen Große haben es soeben geschafft, ihren Ballon sicher zu landen, der sie in nur einer Nacht von Dresden bis hierher getragen hat. Ein Sturm hatte den Ballon erfasst und mit sich gerissen. Während der Wind weit unter ihnen an den Bäumen gezerrt und alles weggeweht hatte, was nicht angebunden war, harrten die Schwestern in vollkommener Windstille ihrem Korb aus und warteten darauf, dass der Sturm abflachte, denn die erfahrenen Ballonfahrerinnen wussten, dass sie bei diesen Bedingungen niemals würden landen können.

Als sie den Ballon endlich auf dem Boden aufsetzen können und nach wilder Schleiffahrt durch ein Kornfeld kurz vor der ersten Baumreihe eines Wäldchens zum Stehen bringen, wälzen sich die Schwestern überglücklich aus dem umgestürzten Korb. Doch das heikle Manöver ist nicht unbemerkt geblieben. Schon kommt ein Jäger angerannt.

„Sind sie verunglückt?“

Atemlos reicht er den Daumen die Hand, schaut sich verwirrt um.

„Wo sind denn die anderen?“

„Die anderen? Wir sind allein.“

„Was?! Zwei Damen allein?
Und auch noch aus Deutschland!“


Der gute Mann war völlig von den Socken. Unglaublich, dass zwei Frauen tatsächlich in der Lage sind, alleine in einem Ballon von Deutschland bis nach Ungarn zu fahren…

Man könnte jetzt sagen: Das ist über hundert Jahre her. Heute passiert so etwas doch nicht mehr. Mann weiß, was Frau kann und traut es ihr auch zu. Nein, nicht immer. Und das wäre noch gelinde formuliert.

Denn nun folgt, was sich 2009 in der kleinen Polizeistation von Qikiqtarjuaq auf Baffin Island zugetragen hat. Die Baffin Babes, vier Abenteuerinnen aus Schweden und Norwegen wollen sich hier ordnungsgemäß abmelden, bevor sie zur längsten Skitour ihres Lebens aufbrechen: 1200 Kilometer auf dem arktischen Packeis liegen vor ihnen. Und welche Frage des pflichtbewussten Officers bleibt während dieser Unterredung natürlich nicht aus?

„I understand you have a guide going with you?“

Jetzt sind die Baffin Babes verwirrt und müssen nachfragen.

„A guide?“

„Is there a guide going… travelling with…?“

„No. We‘re going on ourselves.“

„You‘re on your own!“

Es ist nicht zu verbergen. Das Erstaunen des Officers kennt keine Grenzen. Meines übrigens auch nicht. Fast ein ganzes Jahrhundert liegt zwischen diesen beiden Begegnungen und es scheint, als habe sich nichts geändert.

Die Abenteuerdoku „Baffin Babes“, in der sich der oben skizzierte Dialog abspielte, lief 2011 im Programm der European Outdoor Film Tour. Es war nach 11 Jahren – seit Bestehen der Filmtour! – der erste Film, bei dem eine Gruppe von Abenteuerinnen im Mittelpunkt stand. Wir titelten damals mit „Viel Abenteuer – wenig Bart“ und waren froh, dem durch und durch männlich dominierten Genre etwas Feminines entgegensetzen zu können. Ich habe unten mal eine meiner Lieblingsszenen aus dem Film verlinkt. Die erklärt Einiges.

Doch bis heute sind Frauen in Abenteuerfilmen eher dünn gesät. Es gibt sie, aber mein Eindruck nach über zehn Jahren im Business ist, dass die großen Budgets (die die Grundlage einer Expedition und einer guten Doku sind) tendenziell eher an die männlichen Kollegen gehen. Oder haben Frauen einfach weniger das Bedürfnis, von ihren Abenteuern zu erzählen – filmisch zumindest? Bücher zum Thema gibt es ja eine ganze Menge.


Ich muss gestehen – und zu meiner Schande gestehen – dass ich die Abwesenheit von Frauen in der Abenteuerwelt lange Zeit als normal empfunden habe. Ich habe mich nicht gefragt: Wo sind die Frauen? Im Nachhinein finde ich das ziemlich alarmierend, vor allem, weil dieser Zeitraum so lange war.

Meine erste richtige Abenteuergeschichte habe ich schon in der neunten Klasse geschrieben. In Französisch. Wir hatten eine engagierte Lehrerin und nahmen zum ersten Mal am Bundeswettbewerb Fremdsprachen teil. Die Französischen Revolution war gerade dran gewesen und irgendwie muss sich das Bild der zu jener Zeit vielgenutzten Guillotine in meinem Hirn irgendwie mit meiner Vorliebe für Gruselgeschichte verschaltet haben.

Auf jeden Fall fand ich es amüsant, die enthauptete Königin Marie Antoinette als Geist auf der Suche nach ihrem Kopf in Erscheinung treten zu lassen. Doch Marie Antoinette war nur als Nebenfigur geplant. Eigentlich ging es um zwei Jungs, die ihrem Geist auf einer ungeplanten Zeitreise ins Jahr 1793 zufällig begegnen sollten…

Naja, es war ziemlich wild und weil wir uns mit den visuellen Effekten, die die Verfilmung einer solchen Geschichte erforderte hätten, eindeutig überfordert fühlten, blieb uns nichts anderes übrig als uns in ein weitaus unkompliziertes Genre zu flüchten: Wir haben das Ganze dann als Hörspiel aufgenommen. (Was gäbe ich darum, diese Kassette noch einmal anhören zu können!)

Wir waren deutlich mehr Mädchen in der Französischklasse und die wenigen Jungs glänzten nicht unbedingt in Sachen Aussprache. Somit hätte ich die Geschichte schon aus rein praktischen Gründen von Anfang an mit weiblichen Hauptfiguren planen müssen. Aber auf diese Idee bin ich beim Schreiben gar nicht gekommen! Mädchen gehen nicht auf abenteuerliche Zeitreisen. What?! (Sage ich heute.)

Zum Glück wunderte sich unsere Lehrerin damals schon und schlug kurzerhand vor, aus den beiden Jungs zwei Mädchen zu machen. Und damit hatte ich auch noch eine der beiden Hauptrollen an der Backe.


Ich bin heilfroh, dass die Zeiten dieser innerlichen Denkblockade inzwischen auch vorbei sind. Das Abenteuer ist auch weiblich – und es sollte auch mehr Geschichten geben, die davon erzählen. Als Buch, als Film – whatever. Wer weiß, wohin mich meine beiden Ballonfahrerinnen noch tragen werden. Ich bleibe auf jeden Fall dran.

Fortsetzung folgt…

Ach ja: So kann das harte Abenteuerleben auch aussehen: