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Der späte Triumph des Wörtchens „fuck“

Heute vor 110 Jahren und einem Tag starb Mark Twain. Ein Schriftsteller, den ich sehr schätze, auch wenn ich mit Die Abenteuer des Tom Sawyer nicht sehr viel anfangen konnte, als ich diesen Klassiker in Kindertagen zum ersten Mal aus der Bücherei ausgeliehen habe. Umso mehr liebte ich die Hörspielvariante, die als Kassette (!) über drei Ecken irgendwann bei uns Zuhause aufschlug und rauf und runter gespielt wurde bevor sie eines Tages das Zeitliche segnete.

Viel spannender als Mark Twains Jugendromane finde ich mittlerweile aber seine stets amüsanten Reiseberichte und bissigen Essays. Eines davon – Die schreckliche deutsche Sprache – hat mich solange verfolgt, bis ich irgendwann diesen Text geschrieben und beim Poetry Slam vorgetragen habe. Es gab ein Zeitlimit von fünf Minuten. Das heißt: Ich musste ziemlich schnell sprechen.

Aber Ihr könnt Euch beim Lesen ruhig Zeit lassen.

1.

März 1878
„Die Leute (hier) glauben, die Indianer stehen in New Jersey“

Mark Twain hat viele Bücher geschrieben,
hat sich nicht nur auf dem Mississippi rumgetrieben,
hat die Welt bereist
von New Orleans bis Hawaii
und unser kleines Deutschland
das war auch dabei.

Im März achtzehn achtundsiebzig,
samstags, kurz nach halb zehn,
ging er an Bord,
um sich good old Europe anzusehen.

So schifft er sich in Hamburg ein,
besucht danach Frankfurt am Main,
verliert an Heidelberg sein Herz
und schippert neckarstromabwärts
als Passagier auf einem Floß.

Schaut sich das schöne Deutschland an
und wandert und wundert sich simultan.

Erzählt von ihm fremden Sitten und Bräuchen,
bestaunt Misthaufenreichtum und Vogelscheuchen,
schwärmt von Biergärten, Gamsbärten, Knotenstöcken
und grazilen Damen mit flatternden Röcken…
und frönt selbstredend über kurz oder lang
natürlich auch Wein, Weib und Gesang.
Wagt Wagner zu hören –
und sich zu empören,
denn es fehlt ihm der Sinn
für den Lohengrin …
Und als er der fünfstündige Oper mit schlechtem Tenor
endlich(!) entflohen ist, so nimmt er sich vor:
Alles was recht ist, doch jetzt will ich nur
vor allem eins noch: zurück zur Natur!

Sucht Erholung von diesem entsetzlichen Krach
und lauscht der klappernden Mühle am rauschenden Bach,
entdeckt so die deutschen Lieder und Sagen
und will sie ins Englische übertragen:
den Schelm von Bergen,,
die Lorelei
und die ein oder andere Spukgeschichte
liest man (da) in seinem Reiseberichte.
Er glaubt sich mit allem Wassern gewaschen,
denkt, ihn kann nichts mehr überraschen.
Doch dann verschreckt ihn,
ihr ahnt es schon:
unser „furchteinflößendes Idiom“
die deutsche Sprache.

2.

„Wer nie Deutsch gelernt hat,
macht sich keinen Begriff wie verwirrend diese Sprache ist.“

Dieses Urteil darf sich Mark Twain erlauben,
denn er hat – obwohl’s kaum zu glauben
ist, versucht, unsere Sprache zu verstehn
und ihren Rätseln auf den Grund zu gehen.

Hat Vokabeln und Grammatik studiert
und war ohne Zweifel von ihr fasziniert.
Doch stellt fest, dass gerade die Ordnung es ist,
die er bei der deutschen Sprache vermisst.

Englisch und Deutsch sind zwar verwandt,
das war Mark Twain durchaus bekannt,
doch was früher einmal war sehr eng verbandelt
hat sich im Laufe der Zeit halt gewandelt.

Mag sein, dass bei uns alles etwas komplizierter
ist…. doch dadurch auch um Längen definierter.
Die deutsche Sprache ist eine Bastion,
die erobert werden will,
und wer sagt denn schon,
dass man sie lieben muss,
– das hat sie nie verlangt.

Doch steht ihr zu sie ohne Misstrauen und Hinterlist
als Kusine dritten Grades so zu nehmen wie sie ist.

Er hat sich redlich bemüht,
das muss man ihm lassen,
es steht ihm durchaus zu unsere Sprache zu hassen.
Doch – anstatt sich weiter zu schinden
und sich mit den Problemen abzufinden,
tat Mark Twain nun
was alle Schriftsteller tun
wenn sie Seelenqualen leiden:
Er begann sich den Frust von der Seele zu schreiben.
„The awful German language“
so heißt sein Pamphlet
worin es uns’rer Sprache an der Kragen geht.

So sei das, was wir fremden Ohren zumuten
in seinen Augen, eindeutig zu viel des Guten.
Denn selbst dem eifrigsten Schüler verginge schon der Spaß
beim sinnlosen Pauken des „der – die – das“
(denn) Es heißt:
Der Mann. Alles klar.
Die Frau. Wunderbar.
Der Junge. Ok.
Doch:
Das Mädchen!
Trotz „ihrer“ Anmut bleibt „es“ sachlich –
und somit sei es mehr als fraglich,
warum man – wenn man sich schon drei Geschlechter gönne! –
eben jene nicht auch gleich korrekt verteilen könne.

Ein solch lockerer Umgang mit der Sprachkultur
verrohe auch letztendlich unsere Satzstruktur,
wozu, um nur einmal ein Beispiel zu nennen
auch die Unart gehöre, Verben zu trennen.
Man scheide auf, man reiße ab, man schreibe auseinander
und würfe so die Sätze gründlich durcheinander…
was das Verständnis eines Textes doch sehr erschwere
und noch dazu an der Geduld des Lesers zehre
dessen Blicke verzweifelt die Zeilen streifen
um erst drei Absätze später ihren Sinn zu begreifen.

Und neben dieser Horde von verstümmelten Verbfetzen
lauerten noch and’re Monster in uns’ren Sätzen.
Kaum zu glauben, dass ein Land,
das ja so ziviliert
alles regelt, alles ordnet, alles reguliert
wirklich keine
Substantivkompositamaximallänge
definiert.

In dieser Manier
geht es heiter weiter.
Uns’re Sprache und wir,
ihre Prinzipienreiter,
soll verstehen wer will.
Mark Twain hat kapituliert
und ist dafür, dass man die deutsche Sprache reformiert.

Es sei nicht alles schlecht
jedoch mehr schlecht als recht.
Und falls man ihren Niedergang noch verhindern wollte,
so gäbe es ein paar Punkte, die man verbessern sollte.

Zu allererst gehöre mal das Verb weiter nach vorn
am Ende eines Satzes hätte es gar nichts verlor’n.
(Gründe: siehe oben)

Des weiteren, so rät er uns,
den Dativ aufzugeben.
Schmückender Unsinn!
Man könnt‘ auch ohne ihn gut leben.
Dass die Gefahr eigentlich von ganz andrer Seite droht
– denn im Grunde ist der Dativ doch dem Genetiv sein Tod –
hat er leider übersehen,
aber knapp daneben ist halt auch vorbei
und so kommen wir nun zu seinem Vorschlag Nummer drei

Und der bezieht sich
ums es gelinde auszudrücken
auf den Mangel uns’rer Sprache an Kraftausdrücken.
Das Deutsche sei so sanft
das Deutsche sei so zahm
das Deutsche sei so kraftlos
und nicht zu sagen lahm.
Eine Sprache, deren Flüche so verhalten klingen
dass es gelänge damit Kinder in den Schlaf zu singen.

Er empfiehlt, um diesen Missstand zu kurieren
ein paar Worte aus dem Englischen zu importieren.
Ja, er will uns ernsthaft ein paar Kraftausdrücke gönnen,
damit wir Deutschen endlich auch mal richtig fluchen können.

Und über 100 Jahre später
ist nur eindrucksvoll bewiesen:
Wir haben die Lektion gelernt
trotz aller Kriege, aller Krisen.

Doch was bleibt,
das ist der herbe Nachgeschmack
ob des späten Triumphs des Wörtchens „fuck“.

Daniela Schmitt

Lesetipps:

Mark Twain: Bummel durch Deutschland (insel taschenbuch)
Mark Twain: Leben auf dem Mississippi (aufbau taschenbuch)

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Im Moor

Vor einem Jahr (als man noch reisen durfte!) habe ich dem Schwarzen Moor in der Rhön einen Besuch abgestattet. Als Kinder waren wir oft dort und hatten großen Respekt vor allem was rechts und links des Wegs lag. Wir glaubten nämlich, dass wir bei einem falschen Schritt im Moor versinken würden…

Heute bleibe ich auf dem Steg, weil ich nicht quer durchs Naturschutzgebiet trampeln möchte. Wie die Zeiten sich doch ändern. Und warum ich bei dieser Gelegenheit „Lyrik abgesondert habe“ (so würde Kurt Tucholsky wohl sagen) – keine Ahnung. Passiert.

O, schaurig ist‘s
(nicht wirklich)
übers Moor zu gehn,
im hellen Sonnenschein,
wenn‘s friedlich daliegt,
ganz so, als könnt es kein
einziges Wässerlein
auch nur ansatzweise trüben.

Doch genieße ich die Stille,
die 360-Grad-Idylle?
Mitnichten!
Ich las zu viele Spukgeschichten
und wünsche mir,
ich wäre hier,
zu einer andren Tageszeit,
T minus 12 Stunden –
bei Dunkelheit.

Und lauschte in einer Vollmondnacht,
wenn das Moor aus seinem Schlaf erwacht,
dem heulendem Wind und Käutzchengeschrei…
– das wär‘ dann wohl echte Gruselei…

Doch nichts dergleichen hab ich heut vernommen,
und so muss ich wohl noch mal wiederkommen.

Daniela Schmitt

#nochngedicht#inspiredby#annettevondrostehülshoff#schwarzesmoor#rhön#spaziergang#moorauge

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STORYTELLING

2+2≠4

Aus der Serie: Logische Haarspaltereien (Teil 2)

Nach der leicht absurden Behauptung „1+1=3“ wird man zwangsläufig hellhörig, was weitere mathematische Fauxpas aus der Welt des Storytellings angeht. Es erhärtet sich die Vermutung, dass es in diesem Metier nicht allzu viele Rechenkünstler gibt…

Andrew Stanton hat an den ersten Pixar-Filmen mitgearbeitet. Er war einer jener Rebellen, die daran geglaubt haben, dass Animationsfilme keine Musicals sein müssen – und dass die altbewährte Disney-Formel weiterentwickelt werden kann.

Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden und gleichzeitig neue Regeln zu entwickeln. Bis auch diese Regeln eines Tages wieder jemand über den Haufen werden wird. (Menschen sind so.)

Vorerst steht aber die Behauptung im Raume, dass es im Flow der Geschichte sehr wohl einen Unterschied mache, ob man den Zuschauern das Ergebnis (=4) serviert oder sie 2+2 zusammenzählen lässt. Also: 2+2≠4?

Ok, es geht um Storytelling – und nicht um Mathematik.

Und ja, an seiner Aussage ist was dran.

Als Zuschauer möchte man ahnen können, was als nächstes passiert und dennoch überrascht werden. Ahnen kann aber nur, wer die Figuren kennengelernt hat und sie deshalb einschätzen kann. Doch das funktioniert erst (grob geschätzt) in der zweiten Hälfte der Geschichte.

Wer Regeln liebt, darf sie gern nachlesen:

PIXAR’s 22 Rules of Storytelling

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Bologna

War es eine gute Idee, im Frühjahr 2020 nach Italien in Urlaub zu fahren? Im Nachhinein betrachtet: Nope. Aber wer konnte denn vorher schon ahnen, dass vier Wochen später kriegsähnliche Zustände herrschen würden?

Die Grenzen: dicht. Die Menschen: panisch. Und die Stimmung:

Als ob dieser Knabe aus Bologna bereits geahnt hätte, welche Katastrophe wenig später über sein Land hereinbrechen würde. Das Bild entstand am 25. Februar. Da verzeichnete Italien schon 220 bis 229 Corona-Infizierte und 6 oder 7 Tote – je nach Quelle. In Bologna gab es noch keinen einzigen Fall.

Es war die Ruhe vor dem Sturm.

Es ist unmöglich, den Urlaub Revue passieren zu lassen, ohne das Gefühl zu haben, gerade noch einmal heil davongekommen zu sein. Vor allem, wenn dieses Gefühl vor Ort so gar nicht vorhanden war. Das wird diese Reise für immer zu etwas Besonderem machen.

Arkaden prägen das Stadtbild von Bologna. Insgesamt sollen die Säulengänge eine Länge von 38 Kilometern haben. Das ist ganz praktisch bei Regen, weil man auch ohne Schirm relativ trocken durch die ganze Stadt kommt. Aber es bietet auch Schmierfinken reichlich Gelegenheit, sich im Vorbeigehen mal schnell mit einer Zeichnung oder einem Spruch zu verewigen.

Bist du bereit für das Ende der Welt?

Warum ich ausgerechnet diese Schmiererei fotografiert habe, kann ich nicht genau sagen: War es Galgenhumor ob der angespannten Stimmung in der Stadt oder die Genugtuung, einen italienischen Satz verstanden zu haben, ohne das Wörterbuch bemühen zu müssen? Wahrscheinlich beides.

Im Eingangsbereich zur Bibliothek der Universität herrscht gähnende Leere. Sämtliche Vorlesungen wurden bereits abgesagt. Die berühmteste Kinderbuchmesse der Welt ebenfalls. Sicherheitshalber. Bin ich als Tourist also fehl am Platze? Schwer zu sagen. Ich reise gern in der Nebensaison und mag keine überfüllten Plätze oder Sightseeing nach Schablone. Ich hatte mir die Stadt auch nicht viel voller vorgestellt, aber ich habe keinen Vergleich… was wäre denn normal gewesen?

Im Gegensatz zu vielen anderen hatten mich nicht die beiden Türme Garisenda und Asinelli nach Bologna gelockt. Beeindruckend waren sie trotzdem, die windschiefen Überbleibsel der mittelalterlichen Machtdemonstration einiger wohlhabender Bologneser Familien. Im 12. und 13. Jahrhundert soll es in Bologna bis zu 180 solcher Türme gegeben haben.

Einer von ihnen – Garisenda (oben links) – wird sogar in Dantes „Göttlicher Komödie“ erwähnt. Dieses Epos haben wir vor Jahren einmal für ein Studienprojekt an der HdM bearbeitet und als multimediale Reise durch die drei Jenseitsreiche auf den Spuren von Dante und Vergil inszeniert.

An den Turm Garisenda konnte ich mich natürlich nicht mehr erinnern, wohl aber an Dantes lebhafte Beschreibung der neun Höllenkreise – und in genau diesem Abschnitt des Werks wird der Turm erwähnt. Unter den aktuellen Umständen verwundert es mich nicht gerade, dass ich scheinbar schon wieder und ziemlich unfreiwillig in dieses Buch geraten bin.

Einen Hoffnungsschimmer gibt es allerdings, auch bei Dante. Der Dichter musste zwar in seinem Werk die neun Kreise der Hölle durchschreiten und den Läuterungsberg mühsam erklimmen, doch als Belohnung trifft er im Paradiso auch seine Jugendliebe Beatrice wieder.

Und somit schließt sich der Kreis. Denn es war ja eigentlich nichts weiter als ein Lied gewesen, das mich in diese Stadt gelockt hatte:

Wenn jemand fragt, wohin du gehst
Sag, nach Bologna
Wenn jemand fragt, wohin du gehst
Sag, für Amore, Amore

„Bologna“ / Wanda

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POST-IT

Läuft

Glaube ich daran, dass mir das Tangram-Männchen an meinem Kühlschrank etwas mitteilen möchte? Nicht wirklich. Ich bin es ja schließlich selber, die seine einzelnen Teile alle paar Tage neu arrangiert… Aber diese Anordnung ist doch ziemlich dynamisch!

Und daher ist die Frage berechtigt: Warum möchte es (nach vier Wochen Corona-bedingten Ausgangsbeschränkungen) einfach nur noch davonlaufen? Naja, es hat die Schnauze wohl genauso voll wie ich.

#läuft #läuftdoch #läuftdochimmer #läuftdochimmernoch #läuftdochimmernochnicht

(in Hashtags ausgedrückt)
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STORYTELLING

1+1=3

Aus der Serie: Logische Haarspaltereien (Teil 1)

Zugegeben, mathematisch sauber ist diese Überschrift nicht. Ich glaube, es ist der Versuch, eine oft zitierte Aristoteles-Weisheit in die Welt der Zahlen zu übertragen. Denn er war es, der einst (sinngemäß) schrieb:

Das Ganze ist mehr
als die Summe seiner Teile.

Aristoteles

Nun hat sich Aristoteles seinerzeit vor allem als Philosoph und weniger als Mathematiker hervorgetan. Es wäre daher plump und unfair, ihm noch Jahrhunderte nach seinem Ableben eine Art Rechenschwäche vorzuwerfen.

Allerdings gibt es kaum jemanden, der professionell Geschichten erzählt, und sich nicht in irgendeinen Form auf die „Poetik“ des Aristoteles beruft. (Auch ungelesen.) Bis heute gilt sie als Grundfeste jeglichen Erzählens.

Aber es ist amüsant, dass Storyteller manchmal auch andere Teile seines Werks zitieren – jedoch ohne es zu merken. Zumindest hatte ich den Eindruck bei Dokumentarfilmer Ken Burns.

Was ist eine gute Geschichte?

Bei seiner Antwort auf diese Frage spielt die Aristotelische 1+1=3-(Un)gleichung eine nicht ganz unwesentliche Rolle.

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Beppo Straßenkehrer

Seit heute gelten in Bayern strenge Ausgangsbeschränkungen. Das heißt: Ohne triftigen Grund darf keiner mehr vor die Tür. Zum Glück fallen auch Radfahren und Spazierengehen in diese Kategorie. Wenn man allein unterwegs ist – oder mit den Menschen, mit denen man zusammenwohnt. Immerhin ein Lichtblick.

München ist über Nacht zu einer Geisterstadt geworden. Die Polizei fährt am Samstagnachmittag durch die menschenleeren Straßen und fordert die Mitbürgerinnen und Mitbürger über Lautsprecher dazu auf, die Häuser nicht zu verlassen.

Also befinden wir uns doch im Krieg? Es fühlt sich fast so an. Oder nimmt man nur an, dass es sich wohl so anfühlen muss, weil man es selbst noch nicht erlebt hat? Was heute passiert, ist sicher alles kein Vergleich zu damals, mit Fliegeralarm, Verdunkelung und durchwachten Nächten im Luftschutzkeller. Aber wir haben bereits den Punkt erreicht, wo aus Absurdität Alltag geworden ist.

Die große Frage ist, wann die Zahl der Infizierten stagnieren wird. Ob es reicht, das öffentliche Leben für zwei Wochen komplett herunterzufahren. Oder ob es vielleicht noch länger dauern wird.

Schritt, Atemzug, Besenstrich

Es kommt mir so vor als lägen die Tage vor uns wie eine lange Straße, deren Ende nicht in Sicht ist. Vielleicht genau der richtige Zeitpunkt, um eine Nebenfigur aus einem sehr berühmten Kinderbuch zu Wort kommen zu lassen, die – wie sich in den letzten Tagen herausgestellt hat – einen systemrelevanten Beruf ausübt und wissen muss, wovon sie spricht: Beppo Straßenkehrer.

„Siehst du, Momo“, sagte er dann zum Beispiel, „es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.“

Er blickte eine Weile vor sich hin, dann fuhr er fort: „Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.“

Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“

Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“

Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: „Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.“ Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: „Das ist wichtig.“

Michael Ende: Momo. Thienemann

Auch der japanische Künstler Tatsuya Tanaka hat die Gabe, Alltagsgegenstände in ein neues Licht zu rücken. Selbst wenn man versucht ist, die kommenden Tage einfach nur irgendwie im Kalender abhaken zu wollen, so wird man doch bei seinem Miniatur Calendar wenigstens einmal am Tag überrascht.

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Schwarze Löcher

Sieht so aus, als hätten wir einem Virus den Krieg erklärt. Oder hat das Virus am Ende uns den Krieg erklärt? Diese Möglichkeit lässt sich leider nicht so leicht von der Hand weisen. Und damit wäre der Punkt erreicht, an dem selbst Händewaschen nichts mehr hilft.

Das Virus hat sich innerhalb kürzester Zeit zu einer echten Bedrohung für uns alle entwickelt. Deshalb müssen wir ihm unbedingt Einhalt gebieten. Mit äußerst krassen Methoden, auch wenn die persönliche Freiheit jedes Einzelnen darunter leidet. Dennoch kann ich mich eines Gedankens nicht ganz erwehren: Sind wir für unseren Planeten nicht schon viel länger zu einer Bedrohung geworden? Ist das gerade ein Angriff oder ein Verteidigungsschlag?

Was auch immer es ist, ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas in dieser Größenordnung erlebt zu haben. Man sucht ja zwangsläufig nach Vergleichen. Als der Reaktor des Kernkraftwerks in Tschernobyl explodierte, war ich noch im Kindergarten. Dass das Gemüse in unserem Garten danach sofort in die Mülltonne wanderte, weiß ich nur aus Erzählungen. Man hatte Angst vor radioaktivem Niederschlag und blieb drinnen, wenn es regnete. Wir Kinder durften nicht mehr im Sandkasten spielen. Ein unsichtbarer Feind hatte das ganze Land in helle Aufregung versetzt, doch es bestand keine Notwendigkeit, soziale Kontakte einzuschränken. Heute hockt halb Deutschland im Homeoffice. Keiner wirft verstrahlten Salat in den Müll, aber man hat Angst, den Türöffner in der U-Bahn zu berühren.

Auch 9/11 gehört in eine ganz andere Kategorie. New York war damals noch sehr weit weg für mich. Und ich hatte noch nie einen Fuß in ein Flugzeug gesetzt. Trotzdem verfehlten die Terrorangriffe ihre Wirkung nicht. Wir saßen gebannt vor dem Fernsehen und schauten uns immer wieder die gleichen verwackelten Bilder an. Und mit uns die diffuse Angst, nicht zu wissen, wo als nächstes etwas Ähnliches passieren würde. Die ganze Welt hielt kurz den Atem an – und beschloss dann, einfach weiterzumachen wie bisher. Die Rückkehr zur Normalität war eine Trotzreaktion: Ihr kriegt uns nicht klein.

Am Ground Zero wurde dann später ein gewaltiges Mahnmal gegen das Vergessen errichtet. Aber wenn man da steht und in die Tiefe schaut, hat es fast den gegenteiligen Effekt. Den Eindruck hatte ich jedenfalls vor ein paar Jahren, als ich das Denkmal in New York aus nächster Nähe betrachtete.

Ich sah zwei schwarze Löcher, so groß wie die Grundfläche der ehemaligen Wolkenkratzer. In jedem Loch stürzte Wasser von allen Seiten zunächst in ein quadratisches Becken, um danach in dessen Mitte in einem scheinbar bodenlosen Schlund zu verschwinden – als wollte es auf diese Weise jede Erinnerung an das schreckliche Ereignis in sich aufsaugen. So wie echte schwarze Löcher das mit Materie, Licht und Zeit ja letztendlich auch machen. Ich kann nur hoffen, dass es ein heilsames Vergessen ist.

Die Angst vor dem Terror ist immer noch da. Aber wir können ihr zumindest mit verschärften Sicherheitskontrollen am Flughafen entgegenwirken. Und damit, dass wir uns trotz allem so normal wie möglich verhalten.

Und was ist jetzt mit diesem neuen Feind, dem Virus? Ihn können wir offenbar nur in die Knie zwingen, wenn wir unsere grundlegenden Gewohnheiten ändern – und uns so abnormal wie nur möglich verhalten.

Zu Hause bleiben. Auf Abstand gehen. Und deswegen bitte keinen Aufstand machen. Sonst haben wir hier bald auch eine Ausgangssperre. #viennacalling

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Bei Regen im Zelt sitzen

Wir arbeiten seit gestern fast alle aus dem Homeoffice. Deswegen habe ich auch die Topfpflanze, die unser Tisch quasi adoptiert hat, heute zu mir nach Hause geholt. Jemand sollte sie in nächster Zeit gießen und auch ein bisschen mit ihr reden. Ich glaube, das krieg‘ ich hin.

Nach über zehn Jahren in der Welt der Outdoorsport- und Abenteuerfilme werdet ihr es mir sicher verzeihen, wenn sich mir schon gleich am zweiten Tag dieses „Social Distancings“ der folgende Vergleich aufdrängt:

Freiwillige Quarantäne ist so wie bei Regen im Zelt zu sitzen. Das passiert auf fast jeder Expedition, mindestens einmal. Die Abenteurer müssen dann warten, bis das Wetter besser wird. Aber wenn das in einem Film passiert, schneidet man die Wartezeit von mehreren Tage gerne mal runter auf vielleicht 20 Sekunden.

Und das nennen wir dann Doku.

Merke: Nur das wahre Leben verläuft wirklich in Echtzeit.

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Vollbremsung


Ich habe das Gefühl, ein ganzes Land tritt auf die Bremse. Nein, einem ganzen Land wird eine Vollbremsung verordnet! Und wie es die Trägheit der Masse nun mal so will, trifft es uns alle wie eine gewaltige Watschn.

Staatlich verordnete Ent – schleu – ni – gung. Dass es so etwas wirklich gibt, das hätte ich bis letzte Woche jedenfalls nicht geglaubt.

Also, alle mal absteigen. Aussteigen. Umsteigen.