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Carpe annum

Wir alle erleben diese Pandemie extrem unterschiedlich. Gerecht ist das nicht. Aber alle Sichtweisen sind berechtigt. Das ist hier ist meine.

Ein ganzes Jahr
In der Reserve

Da sitz ich auf der Bank
Und schau‘ zu
Wie all die andern ackern

Aber ich bleib‘ ganz bei mir
Schön auf Abstand zu allem
Mit Ausnahme meines schlechten Gewissens

Denn ausgebremst aber angeschnallt
Darf sich nicht beschweren

Mir geht’s doch eigentlich ganz gut
Sagt der Kopf
Doch im Bauch kocht die Wut

Nur Mut, denk‘ ich mir: Carpe annum
also: Nutze das Jahr, das kommt auch nicht wieder

Aber da gibt’s Tage, da geht gar nichts
Rein gar nichts
Und andere, da geht’s besser
Viel besser

Als vorher

Leben im Leerlauf
Fahren auf Sicht
Die Normalität, ich vermisse sie

Manchmal auch nicht


Es war mal wieder Zeit für Poesie.

Dass man im Event-Business als
a) nicht systemrelevant und
b) Gefahr für die Allgemeinheit
angesehen wird, muss man halt auch erst mal verdauen.

Mood:

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Bummel durch New York

Den folgenden Text habe ich 2018 bei einem Wettbewerb eingereicht und bin sogar auf die Shortlist gekommen. Das heißt, meine Reisereportage wurde auf der Website THE TRAVEL EPISODES veröffentlicht – was mich natürlich sehr gefreut hat. Damals hatte ich noch keinen Blog, aber mittlerweile gibt es ihn und ich denke, es ist an der Zeit, den Text heimzuholen.

Ich bin in New York, weil ich noch nie in New York war. Ich glaube, ich möchte mein Bild von dieser Stadt verifizieren. Ich habe Romane wie „Mond über Manhattan“ und „Der große Gatsby“ gelesen und Spielfilmklassiker wie „Frühstück bei Tiffany“ und „Sabrina“ gesehen. Ich möchte wissen, wie viel Wahrheit tatsächlich in den ganzen Hollywoodmärchen steckt – und wie rosarot die Brille war, die ich beim Lesen immer getragen habe. Ob eine Woche New York ausreicht, um diese Fragen zu beantworten? Wir werden sehen.

Neben den Büchern und Filmen, die meine Vorstellung von dieser Stadt geprägt haben, hat sich noch ein weiteres Bild in mein Gedächtnis eingebrannt: ein 1500-Teile-Puzzle, das die New Yorker Skyline bei Nacht zeigte. Es war kein einfaches Motiv und ich brauchte als Kind immer mehrere Tage, um es komplett zusammenzusetzen. Hier zu sein, fühlt sich ganz ähnlich an: Ich versuche, mir ein Bild von dieser Stadt zu machen. Stück für Stück kombiniere ich Gehörtes, Gesehenes und Gelesenes mit meinen eigenen Erfahrungen.

Das hier ist kein Best-of und kein Howto für New York.

Es sind meine Momentaufnahmen einer Stadt, durch die ich mich sieben Tage lang treiben ließ.

Eine der ersten Entdeckungen: New York riecht nach verbranntem Öl. Ich hatte damit gerechnet, dass mir in den Straßenschluchten Abgasgeruch und U-Bahn-Mief entgegenschlagen würden, der „Duft des Molochs“ eben. Doch dafür haben die Stadtplaner das Straßenraster zu großzügig angelegt. Was stattdessen an fast jeder Ecke meine Nase kitzelt, sind die Ausdünstungen von kleinen fahrbaren Imbissständen.

Asiatisch, mexikanisch, halal – hier gibt es für jeden das Passende. Ein erster Vorgeschmack auf den bunten Schmelztiegel der Kulturen, auf den ich mich in den nächsten Tagen einlassen werde. Viel spricht dafür, dass diese Straßenköche alle das gleiche Öl benutzen und es regelmäßig anbrennen lassen. Die Kundschaft scheint das nicht zu stören.

Hier wohnen und arbeiten so viele Menschen, da können nicht alle so empfindlich sein wie ich.

Nächster Punkt: New York ist LAUT! Verkehrslärm und ein fortwährendes Brummen von Klimaanlagen oder Heizungen wabert förmlich durch die Straßen. Augen können auswählen, was sie sehen. Ohren hören alles. Und das ist anstrengend. Daher ist es fast eine Wohltat, von Zeit zu Zeit die Kopfhörer aufzusetzen und den Lärm der Umgebung ausfaden zu können. Und dabei sind mir die viel beschworenen Hupkonzerte auf den Hauptverkehrsadern der Stadt sogar erspart geblieben.

Den eigenen Reise-Soundtrack zu kreieren, hat aber auch noch andere Vorteile. Ob ich in Zukunft immer an SoHo denken werde, wenn „The Sound of Fear“ von Eels in meiner Playlist erklingt? Ich will es stark hoffen. Denn ich habe mich auf Anhieb in dieses Viertel verliebt. In das Klischee des alten New Yorks mit seinen gusseisernen Fassaden samt Feuerleitern in jedem Stockwerk und seinem ramponierten Kopfsteinpflaster. Hier möchte man ein Loft beziehen und aus den großen Fenstern hinunter auf die Straße schauen.

Dort präsentiert ein asiatisches Modell gerade in High Heels den neusten Herbstlook, und bei der angesagten Szeneboutique an der Ecke wartet eine lange Schlange von Menschen geduldig darauf, ein Schnäppchen beim Saisonausverkauf zu ergattern.

Könnte ich mir wirklich vorstellen, hier zu leben? Zuerst winke ich ab. Doch vermutlich hatte Esteban, mein Airbnb-Host, recht, als er mir beim Frühstück gesagt hat: „Eine Woche reicht nicht, um sich an New York zu gewöhnen. Bleib mal drei Monate, dann reden wir weiter.“ Er hat früher in einem riesigen Apartmenthaus in Manhatten gewohnt.
„Die Wohnungen sind winzig, aber wenn man jung ist, gibt es nichts Besseres. So ein Haus ist wie ein kleines Dorf. Jeder kennt jeden. Und direkt vor der Haustür tobt das Leben.“

Das stimmt. New York schläft nie. Und New York vibriert. Ich spreche hier nicht vom „Rhythmus der Stadt“, der mich im übertragenen Sinne gepackt hätte. Nein, ich meine ganz konkret, dass der Boden unter den Füßen zittert. In den U-Bahn-Schächten, in den Hochhäusern, am Broadway und auf dem Times Square. Wie sollte es auch anders sein in einer Stadt, die von Tausenden von Stahlträgern zusammengehalten wird? Ich merke es zum ersten Mal, als ich in Queens auf die Linie 7 warte, die mich nach Manhattan bringen soll. Abseits des Zentrums, wo sich auch mein Airbnb befindet, fahren die Bahnen nicht mehr unter, sondern eine Etage über der Straße. Auf einer gewaltigen Stahlkonstruktion, die vielerorts schon bessere Tage gesehen hat. Kein Wunder, dass es ächzt und quietscht und wackelt, sobald ein Zug im Anmarsch ist – selbst in hundert Meter Entfernung. Mein Verstand sagt: Du weißt ganz genau, das hier jetzt nichts zusammenkrachen wird.

Mein Gefühl sagt: Weiß ich, ist aber trotzdem unangenehm.

Ja, ich spreche mit mir selbst. Das passiert oft, wenn ich allein unterwegs bin. Weil man dann niemanden hat, mit dem man das Erlebte sofort teilen könnte. Auch keinen, der einen in den Arm nimmt, wenn man nervös ist. Aber im Gegenzug braucht man sich auch für nichts rechtfertigen und muss keine Kompromisse bei der Tagesplanung eingehen. Ich muss auf Reisen keine Bucket Lists abarbeiten und alle Sehenswürdigkeiten gesehen haben. Ich plane nicht, wann ich in welchem Restaurant essen werde und es kommt vor, dass ich bei einer U-Bahn-Station aussteige, nur weil ich den Straßennamen lustig finde. Das kann dann schon anstrengend sein. Vielleicht lässt es mich auch etwas konfus erscheinen – aber auf diese spontane Art und Weise kann ich die Welt viel intensiver wahrnehmen.

In einer Stadt wie New York ist man sowieso nie ganz allein. Diese Tatsache bestätigt sich erneut, als ich gemeinsam mit Hunderten von anderen Touristen über die Brooklyn Bridge geschoben werde. Eigentlich sind mir das hier etwas zu viele Menschen auf zu engem Raum, aber ich habe nun einmal ein Faible für Brücken und die Brooklyn Bridge ist eine ziemlich alte Lady für amerikanische Verhältnisse. Die muss ich mir einfach anschauen.

Um mich herum tummeln sich Rucksackträger mit und ohne Selfie-Stick, Souvenirverkäufer und Fotografen mit Hochzeitspaaren im Schlepptau. Sie posieren vor der Skyline Lower Manhattans, direkt neben einem Schild des New Yorker Department of Transportation, welches verkündet, dass es bei Strafe verboten sei, Liebesschlösser anzubringen. No kidding! Ich denke zwar, dass ein Liebesbeweis an der Brooklyn Bridge für 100 Dollar noch einigermaßen erschwinglich wäre, doch ich weiß auch, dass love locks für die Baustatik zu einem ernsthaften Problem werden können. Brücken sollten wirklich nicht unter der Last verliebter Herzen zusammenbrechen müssen.

Als ich durch den Central Park spaziere und auf verschlungenen Pfaden den zweitgrößten See der gigantischen Parkanlage umrunde, sind schon deutlich weniger Menschen unterwegs. Auch wenn der Lärm der Stadt verebbt ist und die verschiedensten Bäume mir einstweilen die Sicht versperren, so weiß ich doch, dass sich auf der nächsten Anhöhe mit Sicherheit wieder ein Wolkenkratzer auf eine surreale Art und Weise über den Baumwipfeln erheben wird. Ich frage mich, wie viel die Besitzer der Apartmenthäuser am Central Park bei ihren Mietern wohl pro Monat für diese Aussicht verlangen können und überquere den „Lake“ an einer schmalen Stelle über die Oak Bridge.

Auf einmal herrscht reger Betrieb. Vormittagsjogger überholen mich auf einer eigens für sie reservierten Spur, Fahrradrikschas kutschieren den eher lauffaulen Teil des Touristenvolks zum nächsten „Geheimtipp“ und am Seeufer drängen sich Menschen mit Fotoapparaten. Ich bahne mir meinen Weg durch den Trubel, bis eine vertraute Melodie an mein Ohr dringt und ich verwundert innehalte. „Moon River“? Ja, da sitzt tatsächlich ein Musiker und spielt die berühmte Melodie aus „Frühstück bei Tiffany“. Sein Instrument mit den zwei Saiten und dem kleiner Resonanzkörper erscheint mir irgendwie fernöstlich, aber die wehmütigen Töne, die es erzeugt, ähneln denen einer Geige. Eine chinesische Erhu, wie ich später herausfinde. Doch im Moment fühle ich mich einfach nur wie Holly Golightly. Das ist New York. Ein Mix aus verschiedenen Kulturen, aus Fiktion und Realität, aus Früher und Heute. Allerdings selten so harmonisch wie in diesem Moment. Das wird mir wieder schmerzhaft bewusst, als ich wenig später auf der 5th Avenue stehe. Vor Tiffany & Co.

Obwohl ich mir nicht allzu viel aus Glitzerkram mache, betrete ich das traditionsreiche Juweliergeschäft mit den winzigen Schaufenstern durch eine schmale Drehtür. Die livrierten Türsteher sehen mir sicher auf den ersten Blick an, dass ich hier nichts kaufen werde. Doch ich bilde mir ein, dass sie mich ähnlich zuvorkommend behandeln wie schon Paul und Holly – damals im Film. Zumindest möchte ich glauben, dass hier noch Wert auf Stil gelegt wird, denn nebenan im Trump Tower tut man das ganz gewiss nicht. Und wenn doch, dann hat es für mich einen negativen Beigeschmack. Der Trump Tower ist genauso alt wie ich. Aber das ist sicher das Einzige, was wir gemeinsam haben. Ein Schild über dem Eingang versichert mir, dass das Gebäude mit dem protzigen fünfstöckigen Atrium „Open to the public“ sei. Ich fühle mich nicht angesprochen. Und tauche ab in die Subway.

Bin gespannt, wo sie mich wieder an die Oberfläche spülen wird.

Am frühen Nachmittag wirkt die Haltestelle an der 5th Avenue wie ausgestorben. Ein ungewohnter Anblick, denn bislang habe ich die Subway in den verschiedensten Teilen der Stadt nur voller Menschen erlebt. Die New Yorker U-Bahn ist das egalitärste Verkehrsmittel, das ich jemals benutzt habe. Jeder fährt hier U-Bahn. Die Frauen mit den teuren Shoppingtüten in der einen und den verwöhnten Töchtern an der anderen Hand, die Studentin, die ihre Nase in die Bücher steckt und offenbar für die nächste Klausur lernt, der Geschäftsmann mit der Aktentasche, der alte Mann, der zwei völlig durchweichte kalte Pizzaschachteln wie einen kleinen Abendessenschatz auf seinen Knien balanciert und der junge Mann mit der Alibi-Kippa, bei der man den Eindruck gewinnt, dass es die kleinste ist, der er gefunden hat – und dass er sie an diesem Freitagabend nur trägt, um seiner Mutter eine Freude zu machen. Es wird wenig gesprochen, weil fast jeder auf sein Smartphone starrt, aber wenn Worte gewechselt werden, dann hört man alle Sprachen dieser Welt.

Zuerst dachte ich, dass die Subway nach dem Prinzip des distanzierten Nebeneinanders funktioniert. Man benutzt das gleiche Transportmittel, aber lässt sich weitestgehend in Ruhe. Doch ich lerne schnell, dass die Subway vielmehr ein sich selbst regulierendes System ist. Als mir einer ihrer Mitarbeiter am ersten Tag den besten Weg zu meinem Airbnb auf seinem Handy heraussucht, halte ich es noch für den üblichen Touristenbonus. Als ich vier Tage später in den Tiefen meiner Jackentasche nach dem Stadtplan krame, werde ich von einem Mitfahrer freundlich darauf hingewiesen, dass ich soeben meine Fahrkarte verloren hätte. Menschen rutschen auf den Sitzbänken zusammen, wenn mehr Leute in die Bahn drängen. Teenager bieten älteren Damen ihren Sitzplatz an. Der Mann zu meiner Rechten reist mit einem fahrbaren Putzwagen und bemerkt nicht, dass sich einer seiner ölverschmierten Lappen selbstständig gemacht hat und auf den Boden gepurzelt ist. Sofort zeigt eine Frau, die uns gegenübersitzt, auf das Corpus Delicti und bittet ihn höflich, den Lappen doch wieder mitzunehmen. Ich weiß nicht, wie, aber dieses System funktioniert.

Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Und an einem Abend bin ich dafür besonders dankbar.

Es ist kurz nach elf und ich sitze in der Bahn. Der Wagen ist halb leer. Ich habe noch die mitreißenden Songs des Musicals „The Book of Mormon“ im Ohr, das ich mir gerade am Broadway angeschaut habe. Als wir losfahren, höre ich, dass jemand am anderen Ende des Wagens zu rappen beginnt. Nachdem gestern ein mexikanisches Duo mit Harmonika und Klampfe in der Bahn ein spontanes Konzert gegeben hat, bin ich einer Hip-Hop- Darbietung heute nicht unbedingt abgeneigt. Doch dieser Rap ist unglaublich aggressiv, frauenfeindlich und obszön. Zuhören ist unangenehm. Ich weiß, dass die Bahn noch gute fünf Minuten bis zum nächsten Stopp braucht. Ich kann hier jetzt nicht raus. Ich tausche Blicke mit den anderen Mädels im Wagen aus. Der Kerl ist uns nicht geheuer, doch wir geben uns Mühe, einfach darüber hinwegzugrinsen. Auch noch, als er sich langsam auf uns zubewegt. Da steht ein alter Mann auf, ein Schwarzer mit grau meliertem Bart, der einen Eimer voll Putzutensilien dabei hat, und versucht, den ziemlich abgerissen aussehenden Rapper zu beruhigen. Er redet leise auf ihn ein und will ihn offenbar dazu bewegen, sich hinzusetzen – was ihm dann schließlich auch gelingt. Nach und nach verändert sich die Tonalität des Sprechgesangs: Es klingt immer weniger aggressiv, dafür umso hilfloser. Ich weiß nicht, welche Kombination von Drogen und Depressionen so etwas bewirken kann, aber ich habe selten einen verzweifelteren Menschen gesehen als diesen Rapper, der auf wie ein Häufchen Elend auf dem Boden saß und im Takt vor und zurück wippte.

Es sind diese Kontraste, die New York so faszinierend machen.

Da sind die Hochhäuser, die stolz in den Himmel ragen, unpersönlich und glattpoliert – und gleich darunter das weitverzweigte U-Bahn-Labyrinth, wo es umso mehr menschelt. Beide Seiten sind durch Stahl und Beton untrennbar miteinander verbunden. Oben gibt es vielleicht mehr Glas und unten mehr Dreck, oben mehr Ruhe und unten mehr Lärm. Aber im Grunde genommen können sie nicht ohne einander.

Ich kann mir nicht ganz erklären, warum ich große Gebäude mag und warum mich eine Stadt fasziniert, in der sich fast alle Straßen auf vollkommen unnatürliche Weise im 90- Grad-Winkel kreuzen. (Abgesehen vom Broadway, der ganz klar aus der Reihe tanzt.) In deren Straßenschluchten manche Häuser kaum Sonne abbekommen und wo so viele Menschen auf so engem Raum zusammenleben und arbeiten, dass man sich Sorgen um seine Privatsphäre machen muss. „Fahr doch in die Berge“, möchte man mir sagen. „Da ist die Aussicht viel schöner. Da hast du unberührte Natur. Da kannst mal richtig durchatmen.“ Das stimmt. Aber trotzdem bin ich hier und ich bin begeistert. Ich habe es genossen, auf dem Dach des Rockefeller Centers zu stehen und den Central Park im Norden und Lower Manhattan samt Empire State Building im Süden zu betrachten. Ich habe mich in der Grand Central Station vom Pendlerstrom mitreißen lassen und vom Aussichtsdeck der Staten Island Ferry die New Yorker Skyline und die Freiheitsstatue bewundert. Ich habe die wohl teuersten Werbeanzeigen der Welt am Times Square fotografiert und den East River mit der Seilbahn überquert – und ich habe mehrmals eine Genickstarre riskiert, indem ich die Wolkenkratzer vom Bürgersteig aus bestaunt habe.

Es ist mir gelungen, einige Teile meines New-York-Puzzles zusammenzufügen. Aber es ist noch lange nicht komplett. Die Stadt hat mich mit ihren Eindrücken überschüttet. Einige Erfahrungen waren intensiv, bei anderen habe ich nur an der Oberfläche gekratzt. Ich könnte die Lücken im Nachhinein kaschieren und diese Reiseerinnerungen etwas harmonischer und chronologischer formulieren. Aber das möchte ich gar nicht. Ich will einen Grund haben, wiederzukommen. Und das werde ich, allerdings nicht allein.

Ich bin schon jetzt gespannt, in welchen Farben das Empire State Building beim nächsten Mal erleuchtet sein wird. Vorerst werde ich es in schlichtem Weiß in Erinnerung behalten.
„Signature White“, wie es im offiziellen Beleuchtungsplan heißt. Ja, so etwas gibt es. Und es muss auch diesen Menschen geben, diese eine Person, die auf die Frage „Und, was machen Sie so?“ antworten kann: „Ich bin der Oberbeleuchter vom Empire State Building.“

New York ist definitiv die Stadt mit den coolsten Jobs der Welt.

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Tashi and the Monk

Ja, der besinnliche Teil des Jahres ist angebrochen. Und es hat heute Nacht sogar geschneit. Die Nachbarin aus der Dachwohnung von gegenüber hat mir einen Schneeball ans Fenster geworfen. Unabsichtlich, das konnte man ihrem peinlich berührten Gesicht auch aus der Entfernung ansehen. Ich fand’s witzig. Mal sehen… vielleicht lande ich demnächst auch mal einen Treffer an ihrem Fenster. Ich kann bloß so schlecht zielen…

Nonverbales Kommunizieren steht ja seit Monaten hoch im Kurs. Deswegen versuche ich in letzter Zeit mehr ganz bewusst mehr Körpersprache beim Reden einzusetzen: weil ja niemand sehen kann, dass ich lächle, wenn ich eine Maske trage. Manchmal klappt das sogar ganz gut. Eine völlig neue Erfahrung…

Keine Frage, es ist das Wort „Abstand“, das unser Leben im Moment auf so unerfreuliche Weise fremdbestimmt. Deshalb finde ich es umso wichtiger, sich in Erinnerung zu rufen, dass Berührungen nicht ausschließlich haptischer Natur sein müssen.

Auch Geschichten können uns berühren.

Aus diesem Grund möchte ich euch in dieser ersten Adventswoche einen Film ans Herz legen, den ich vor ein paar Jahren auf dem fabelhaften Banff Mountain Film Festival kennen und lieben gelernt habe – nicht nur, weil darin auch ein paar Kerzen angezündet werden:

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Kolumbusplatz

Die U-Bahn ist kein Ort, den ich oft und gern frequentiere. Trotzdem ist mir nicht entgangen, dass sich an meiner Station vor ein paar Tagen ein Aktivist mit einer Sprühdose ausgetobt hat. Denn damit kann man ja so richtig schön ein Zeichen setzen – und den Kolumbus quasi vom Platz fegen.

Brauchen wir einen neuen Namen?

Der U-Bahnhof Kolumbusplatz wurde 1980 eröffnet. Ich wohne seit etwa 10 Jahren hier und habe bislang nicht beobachtet, dass dieser Name irgendjemandem sauer aufgestoßen wäre…

Allerdings: Was sind schon ein paar Schmierereien im Gegensatz zu den Denkmälern, die zur Zeit überall in den USA gestürzt werden? Eines steht fest: #blacklivesmatter ist unverkennbar auch in meinem Viertel angekommen.

Stellt sich die Frage: Was ist falsch an unserem Bild von Kolumbus, dem großer Entdecker, der im Auftrag der spanischen Krone aufs Meer hinaus segelte, um den Westweg nach Indien zu finden, letztendlich aber einen völlig neuen Kontinent erreichte, mit dem er nicht im Traum gerechnet hatte?

Unser Problem ist: Das allgemeine Bild ist unvollständig und die Sichtweise einseitig. Kolumbus als „Entdecker der Neuen Welt“ zu bezeichnen, auf diese Idee können nur Europäer kommen. Die dort lebenden indigenen Völker haben seine Ankunft an ihren Gestaden mit Sicherheit anderes wahrgenommen.

Der Erstkontakt mit der einheimischen Bevölkerung verlief nach den Angaben von Kolumbus friedlich. Doch ein respektvoller Kontakt auf Augenhöhe war es nicht. Was mit Landnahme und dubiosen Tauschgeschäften begann, gipfelte schließlich in einem internationalen Sklavenhandel. Somit ist nachvollziehbar, dass man Kolumbus auch als Rassisten bezeichnen kann.

Kein Platz für Rassisten

Das ist die Botschaft. Prinzipiell würde ich da zustimmen. Aber sollte man den Platz deshalb umbenennen?

Umbenennen hieße: Wir nehmen den Protest der Aktivisten ernst und reagieren darauf. Wir lassen nicht mehr zu, dass öffentlicher Raum zum Andenken an eine Person benutzt wird, die vor vielen hundert Jahren einmal rassistisch gehandelt hat.

Es hieße aber auch: Ein Name verschwindet. Und damit auch eine Warnung. Ein Reminder. Eine Möglichkeit, sich selbst immer wieder vor Augen zu führen, was falsch und was richtig ist.

Der Platz soll seinen Namen ruhig behalten. Lieber soll sich alle paar Jahre jemand darüber aufregen und seiner Wut mit eine Sprühdose Erleichterung verschaffen, als dass dieses so wichtige Thema langsam aber sicher in Vergessenheit gerät.

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Der späte Triumph des Wörtchens „fuck“

Heute vor 110 Jahren und einem Tag starb Mark Twain. Ein Schriftsteller, den ich sehr schätze, auch wenn ich mit Die Abenteuer des Tom Sawyer nicht sehr viel anfangen konnte, als ich diesen Klassiker in Kindertagen zum ersten Mal aus der Bücherei ausgeliehen habe. Umso mehr liebte ich die Hörspielvariante, die als Kassette (!) über drei Ecken irgendwann bei uns Zuhause aufschlug und rauf und runter gespielt wurde bevor sie eines Tages das Zeitliche segnete.

Viel spannender als Mark Twains Jugendromane finde ich mittlerweile aber seine stets amüsanten Reiseberichte und bissigen Essays. Eines davon – Die schreckliche deutsche Sprache – hat mich solange verfolgt, bis ich irgendwann diesen Text geschrieben und beim Poetry Slam vorgetragen habe. Es gab ein Zeitlimit von fünf Minuten. Das heißt: Ich musste ziemlich schnell sprechen.

Aber Ihr könnt Euch beim Lesen ruhig Zeit lassen.

1.

März 1878
„Die Leute (hier) glauben, die Indianer stehen in New Jersey“

Mark Twain hat viele Bücher geschrieben,
hat sich nicht nur auf dem Mississippi rumgetrieben,
hat die Welt bereist
von New Orleans bis Hawaii
und unser kleines Deutschland
das war auch dabei.

Im März achtzehn achtundsiebzig,
samstags, kurz nach halb zehn,
ging er an Bord,
um sich good old Europe anzusehen.

So schifft er sich in Hamburg ein,
besucht danach Frankfurt am Main,
verliert an Heidelberg sein Herz
und schippert neckarstromabwärts
als Passagier auf einem Floß.

Schaut sich das schöne Deutschland an
und wandert und wundert sich simultan.

Erzählt von ihm fremden Sitten und Bräuchen,
bestaunt Misthaufenreichtum und Vogelscheuchen,
schwärmt von Biergärten, Gamsbärten, Knotenstöcken
und grazilen Damen mit flatternden Röcken…
und frönt selbstredend über kurz oder lang
natürlich auch Wein, Weib und Gesang.
Wagt Wagner zu hören –
und sich zu empören,
denn es fehlt ihm der Sinn
für den Lohengrin …
Und als er der fünfstündige Oper mit schlechtem Tenor
endlich(!) entflohen ist, so nimmt er sich vor:
Alles was recht ist, doch jetzt will ich nur
vor allem eins noch: zurück zur Natur!

Sucht Erholung von diesem entsetzlichen Krach
und lauscht der klappernden Mühle am rauschenden Bach,
entdeckt so die deutschen Lieder und Sagen
und will sie ins Englische übertragen:
den Schelm von Bergen,,
die Lorelei
und die ein oder andere Spukgeschichte
liest man (da) in seinem Reiseberichte.
Er glaubt sich mit allem Wassern gewaschen,
denkt, ihn kann nichts mehr überraschen.
Doch dann verschreckt ihn,
ihr ahnt es schon:
unser „furchteinflößendes Idiom“
die deutsche Sprache.

2.

„Wer nie Deutsch gelernt hat,
macht sich keinen Begriff wie verwirrend diese Sprache ist.“

Dieses Urteil darf sich Mark Twain erlauben,
denn er hat – obwohl’s kaum zu glauben
ist, versucht, unsere Sprache zu verstehn
und ihren Rätseln auf den Grund zu gehen.

Hat Vokabeln und Grammatik studiert
und war ohne Zweifel von ihr fasziniert.
Doch stellt fest, dass gerade die Ordnung es ist,
die er bei der deutschen Sprache vermisst.

Englisch und Deutsch sind zwar verwandt,
das war Mark Twain durchaus bekannt,
doch was früher einmal war sehr eng verbandelt
hat sich im Laufe der Zeit halt gewandelt.

Mag sein, dass bei uns alles etwas komplizierter
ist…. doch dadurch auch um Längen definierter.
Die deutsche Sprache ist eine Bastion,
die erobert werden will,
und wer sagt denn schon,
dass man sie lieben muss,
– das hat sie nie verlangt.

Doch steht ihr zu sie ohne Misstrauen und Hinterlist
als Kusine dritten Grades so zu nehmen wie sie ist.

Er hat sich redlich bemüht,
das muss man ihm lassen,
es steht ihm durchaus zu unsere Sprache zu hassen.
Doch – anstatt sich weiter zu schinden
und sich mit den Problemen abzufinden,
tat Mark Twain nun
was alle Schriftsteller tun
wenn sie Seelenqualen leiden:
Er begann sich den Frust von der Seele zu schreiben.
„The awful German language“
so heißt sein Pamphlet
worin es uns’rer Sprache an der Kragen geht.

So sei das, was wir fremden Ohren zumuten
in seinen Augen, eindeutig zu viel des Guten.
Denn selbst dem eifrigsten Schüler verginge schon der Spaß
beim sinnlosen Pauken des „der – die – das“
(denn) Es heißt:
Der Mann. Alles klar.
Die Frau. Wunderbar.
Der Junge. Ok.
Doch:
Das Mädchen!
Trotz „ihrer“ Anmut bleibt „es“ sachlich –
und somit sei es mehr als fraglich,
warum man – wenn man sich schon drei Geschlechter gönne! –
eben jene nicht auch gleich korrekt verteilen könne.

Ein solch lockerer Umgang mit der Sprachkultur
verrohe auch letztendlich unsere Satzstruktur,
wozu, um nur einmal ein Beispiel zu nennen
auch die Unart gehöre, Verben zu trennen.
Man scheide auf, man reiße ab, man schreibe auseinander
und würfe so die Sätze gründlich durcheinander…
was das Verständnis eines Textes doch sehr erschwere
und noch dazu an der Geduld des Lesers zehre
dessen Blicke verzweifelt die Zeilen streifen
um erst drei Absätze später ihren Sinn zu begreifen.

Und neben dieser Horde von verstümmelten Verbfetzen
lauerten noch and’re Monster in uns’ren Sätzen.
Kaum zu glauben, dass ein Land,
das ja so ziviliert
alles regelt, alles ordnet, alles reguliert
wirklich keine
Substantivkompositamaximallänge
definiert.

In dieser Manier
geht es heiter weiter.
Uns’re Sprache und wir,
ihre Prinzipienreiter,
soll verstehen wer will.
Mark Twain hat kapituliert
und ist dafür, dass man die deutsche Sprache reformiert.

Es sei nicht alles schlecht
jedoch mehr schlecht als recht.
Und falls man ihren Niedergang noch verhindern wollte,
so gäbe es ein paar Punkte, die man verbessern sollte.

Zu allererst gehöre mal das Verb weiter nach vorn
am Ende eines Satzes hätte es gar nichts verlor’n.
(Gründe: siehe oben)

Des weiteren, so rät er uns,
den Dativ aufzugeben.
Schmückender Unsinn!
Man könnt‘ auch ohne ihn gut leben.
Dass die Gefahr eigentlich von ganz andrer Seite droht
– denn im Grunde ist der Dativ doch dem Genetiv sein Tod –
hat er leider übersehen,
aber knapp daneben ist halt auch vorbei
und so kommen wir nun zu seinem Vorschlag Nummer drei

Und der bezieht sich
ums es gelinde auszudrücken
auf den Mangel uns’rer Sprache an Kraftausdrücken.
Das Deutsche sei so sanft
das Deutsche sei so zahm
das Deutsche sei so kraftlos
und nicht zu sagen lahm.
Eine Sprache, deren Flüche so verhalten klingen
dass es gelänge damit Kinder in den Schlaf zu singen.

Er empfiehlt, um diesen Missstand zu kurieren
ein paar Worte aus dem Englischen zu importieren.
Ja, er will uns ernsthaft ein paar Kraftausdrücke gönnen,
damit wir Deutschen endlich auch mal richtig fluchen können.

Und über 100 Jahre später
ist nur eindrucksvoll bewiesen:
Wir haben die Lektion gelernt
trotz aller Kriege, aller Krisen.

Doch was bleibt,
das ist der herbe Nachgeschmack
ob des späten Triumphs des Wörtchens „fuck“.

Daniela Schmitt

Lesetipps:

Mark Twain: Bummel durch Deutschland (insel taschenbuch)
Mark Twain: Leben auf dem Mississippi (aufbau taschenbuch)

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Im Moor

Vor einem Jahr (als man noch reisen durfte!) habe ich dem Schwarzen Moor in der Rhön einen Besuch abgestattet. Als Kinder waren wir oft dort und hatten großen Respekt vor allem was rechts und links des Wegs lag. Wir glaubten nämlich, dass wir bei einem falschen Schritt im Moor versinken würden…

Heute bleibe ich auf dem Steg, weil ich nicht quer durchs Naturschutzgebiet trampeln möchte. Wie die Zeiten sich doch ändern. Und warum ich bei dieser Gelegenheit „Lyrik abgesondert habe“ (so würde Kurt Tucholsky wohl sagen) – keine Ahnung. Passiert.

O, schaurig ist‘s
(nicht wirklich)
übers Moor zu gehn,
im hellen Sonnenschein,
wenn‘s friedlich daliegt,
ganz so, als könnt es kein
einziges Wässerlein
auch nur ansatzweise trüben.

Doch genieße ich die Stille,
die 360-Grad-Idylle?
Mitnichten!
Ich las zu viele Spukgeschichten
und wünsche mir,
ich wäre hier,
zu einer andren Tageszeit,
T minus 12 Stunden –
bei Dunkelheit.

Und lauschte in einer Vollmondnacht,
wenn das Moor aus seinem Schlaf erwacht,
dem heulendem Wind und Käutzchengeschrei…
– das wär‘ dann wohl echte Gruselei…

Doch nichts dergleichen hab ich heut vernommen,
und so muss ich wohl noch mal wiederkommen.

Daniela Schmitt

#nochngedicht#inspiredby#annettevondrostehülshoff#schwarzesmoor#rhön#spaziergang#moorauge

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Bologna

War es eine gute Idee, im Frühjahr 2020 nach Italien in Urlaub zu fahren? Im Nachhinein betrachtet: Nope. Aber wer konnte denn vorher schon ahnen, dass vier Wochen später kriegsähnliche Zustände herrschen würden?

Die Grenzen: dicht. Die Menschen: panisch. Und die Stimmung:

Als ob dieser Knabe aus Bologna bereits geahnt hätte, welche Katastrophe wenig später über sein Land hereinbrechen würde. Das Bild entstand am 25. Februar. Da verzeichnete Italien schon 220 bis 229 Corona-Infizierte und 6 oder 7 Tote – je nach Quelle. In Bologna gab es noch keinen einzigen Fall.

Es war die Ruhe vor dem Sturm.

Es ist unmöglich, den Urlaub Revue passieren zu lassen, ohne das Gefühl zu haben, gerade noch einmal heil davongekommen zu sein. Vor allem, wenn dieses Gefühl vor Ort so gar nicht vorhanden war. Das wird diese Reise für immer zu etwas Besonderem machen.

Arkaden prägen das Stadtbild von Bologna. Insgesamt sollen die Säulengänge eine Länge von 38 Kilometern haben. Das ist ganz praktisch bei Regen, weil man auch ohne Schirm relativ trocken durch die ganze Stadt kommt. Aber es bietet auch Schmierfinken reichlich Gelegenheit, sich im Vorbeigehen mal schnell mit einer Zeichnung oder einem Spruch zu verewigen.

Bist du bereit für das Ende der Welt?

Warum ich ausgerechnet diese Schmiererei fotografiert habe, kann ich nicht genau sagen: War es Galgenhumor ob der angespannten Stimmung in der Stadt oder die Genugtuung, einen italienischen Satz verstanden zu haben, ohne das Wörterbuch bemühen zu müssen? Wahrscheinlich beides.

Im Eingangsbereich zur Bibliothek der Universität herrscht gähnende Leere. Sämtliche Vorlesungen wurden bereits abgesagt. Die berühmteste Kinderbuchmesse der Welt ebenfalls. Sicherheitshalber. Bin ich als Tourist also fehl am Platze? Schwer zu sagen. Ich reise gern in der Nebensaison und mag keine überfüllten Plätze oder Sightseeing nach Schablone. Ich hatte mir die Stadt auch nicht viel voller vorgestellt, aber ich habe keinen Vergleich… was wäre denn normal gewesen?

Im Gegensatz zu vielen anderen hatten mich nicht die beiden Türme Garisenda und Asinelli nach Bologna gelockt. Beeindruckend waren sie trotzdem, die windschiefen Überbleibsel der mittelalterlichen Machtdemonstration einiger wohlhabender Bologneser Familien. Im 12. und 13. Jahrhundert soll es in Bologna bis zu 180 solcher Türme gegeben haben.

Einer von ihnen – Garisenda (oben links) – wird sogar in Dantes „Göttlicher Komödie“ erwähnt. Dieses Epos haben wir vor Jahren einmal für ein Studienprojekt an der HdM bearbeitet und als multimediale Reise durch die drei Jenseitsreiche auf den Spuren von Dante und Vergil inszeniert.

An den Turm Garisenda konnte ich mich natürlich nicht mehr erinnern, wohl aber an Dantes lebhafte Beschreibung der neun Höllenkreise – und in genau diesem Abschnitt des Werks wird der Turm erwähnt. Unter den aktuellen Umständen verwundert es mich nicht gerade, dass ich scheinbar schon wieder und ziemlich unfreiwillig in dieses Buch geraten bin.

Einen Hoffnungsschimmer gibt es allerdings, auch bei Dante. Der Dichter musste zwar in seinem Werk die neun Kreise der Hölle durchschreiten und den Läuterungsberg mühsam erklimmen, doch als Belohnung trifft er im Paradiso auch seine Jugendliebe Beatrice wieder.

Und somit schließt sich der Kreis. Denn es war ja eigentlich nichts weiter als ein Lied gewesen, das mich in diese Stadt gelockt hatte:

Wenn jemand fragt, wohin du gehst
Sag, nach Bologna
Wenn jemand fragt, wohin du gehst
Sag, für Amore, Amore

„Bologna“ / Wanda

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Beppo Straßenkehrer

Seit heute gelten in Bayern strenge Ausgangsbeschränkungen. Das heißt: Ohne triftigen Grund darf keiner mehr vor die Tür. Zum Glück fallen auch Radfahren und Spazierengehen in diese Kategorie. Wenn man allein unterwegs ist – oder mit den Menschen, mit denen man zusammenwohnt. Immerhin ein Lichtblick.

München ist über Nacht zu einer Geisterstadt geworden. Die Polizei fährt am Samstagnachmittag durch die menschenleeren Straßen und fordert die Mitbürgerinnen und Mitbürger über Lautsprecher dazu auf, die Häuser nicht zu verlassen.

Also befinden wir uns doch im Krieg? Es fühlt sich fast so an. Oder nimmt man nur an, dass es sich wohl so anfühlen muss, weil man es selbst noch nicht erlebt hat? Was heute passiert, ist sicher alles kein Vergleich zu damals, mit Fliegeralarm, Verdunkelung und durchwachten Nächten im Luftschutzkeller. Aber wir haben bereits den Punkt erreicht, wo aus Absurdität Alltag geworden ist.

Die große Frage ist, wann die Zahl der Infizierten stagnieren wird. Ob es reicht, das öffentliche Leben für zwei Wochen komplett herunterzufahren. Oder ob es vielleicht noch länger dauern wird.

Schritt, Atemzug, Besenstrich

Es kommt mir so vor als lägen die Tage vor uns wie eine lange Straße, deren Ende nicht in Sicht ist. Vielleicht genau der richtige Zeitpunkt, um eine Nebenfigur aus einem sehr berühmten Kinderbuch zu Wort kommen zu lassen, die – wie sich in den letzten Tagen herausgestellt hat – einen systemrelevanten Beruf ausübt und wissen muss, wovon sie spricht: Beppo Straßenkehrer.

„Siehst du, Momo“, sagte er dann zum Beispiel, „es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.“

Er blickte eine Weile vor sich hin, dann fuhr er fort: „Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.“

Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“

Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“

Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: „Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.“ Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: „Das ist wichtig.“

Michael Ende: Momo. Thienemann

Auch der japanische Künstler Tatsuya Tanaka hat die Gabe, Alltagsgegenstände in ein neues Licht zu rücken. Selbst wenn man versucht ist, die kommenden Tage einfach nur irgendwie im Kalender abhaken zu wollen, so wird man doch bei seinem Miniatur Calendar wenigstens einmal am Tag überrascht.

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Schwarze Löcher

Sieht so aus, als hätten wir einem Virus den Krieg erklärt. Oder hat das Virus am Ende uns den Krieg erklärt? Diese Möglichkeit lässt sich leider nicht so leicht von der Hand weisen. Und damit wäre der Punkt erreicht, an dem selbst Händewaschen nichts mehr hilft.

Das Virus hat sich innerhalb kürzester Zeit zu einer echten Bedrohung für uns alle entwickelt. Deshalb müssen wir ihm unbedingt Einhalt gebieten. Mit äußerst krassen Methoden, auch wenn die persönliche Freiheit jedes Einzelnen darunter leidet. Dennoch kann ich mich eines Gedankens nicht ganz erwehren: Sind wir für unseren Planeten nicht schon viel länger zu einer Bedrohung geworden? Ist das gerade ein Angriff oder ein Verteidigungsschlag?

Was auch immer es ist, ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas in dieser Größenordnung erlebt zu haben. Man sucht ja zwangsläufig nach Vergleichen. Als der Reaktor des Kernkraftwerks in Tschernobyl explodierte, war ich noch im Kindergarten. Dass das Gemüse in unserem Garten danach sofort in die Mülltonne wanderte, weiß ich nur aus Erzählungen. Man hatte Angst vor radioaktivem Niederschlag und blieb drinnen, wenn es regnete. Wir Kinder durften nicht mehr im Sandkasten spielen. Ein unsichtbarer Feind hatte das ganze Land in helle Aufregung versetzt, doch es bestand keine Notwendigkeit, soziale Kontakte einzuschränken. Heute hockt halb Deutschland im Homeoffice. Keiner wirft verstrahlten Salat in den Müll, aber man hat Angst, den Türöffner in der U-Bahn zu berühren.

Auch 9/11 gehört in eine ganz andere Kategorie. New York war damals noch sehr weit weg für mich. Und ich hatte noch nie einen Fuß in ein Flugzeug gesetzt. Trotzdem verfehlten die Terrorangriffe ihre Wirkung nicht. Wir saßen gebannt vor dem Fernsehen und schauten uns immer wieder die gleichen verwackelten Bilder an. Und mit uns die diffuse Angst, nicht zu wissen, wo als nächstes etwas Ähnliches passieren würde. Die ganze Welt hielt kurz den Atem an – und beschloss dann, einfach weiterzumachen wie bisher. Die Rückkehr zur Normalität war eine Trotzreaktion: Ihr kriegt uns nicht klein.

Am Ground Zero wurde dann später ein gewaltiges Mahnmal gegen das Vergessen errichtet. Aber wenn man da steht und in die Tiefe schaut, hat es fast den gegenteiligen Effekt. Den Eindruck hatte ich jedenfalls vor ein paar Jahren, als ich das Denkmal in New York aus nächster Nähe betrachtete.

Ich sah zwei schwarze Löcher, so groß wie die Grundfläche der ehemaligen Wolkenkratzer. In jedem Loch stürzte Wasser von allen Seiten zunächst in ein quadratisches Becken, um danach in dessen Mitte in einem scheinbar bodenlosen Schlund zu verschwinden – als wollte es auf diese Weise jede Erinnerung an das schreckliche Ereignis in sich aufsaugen. So wie echte schwarze Löcher das mit Materie, Licht und Zeit ja letztendlich auch machen. Ich kann nur hoffen, dass es ein heilsames Vergessen ist.

Die Angst vor dem Terror ist immer noch da. Aber wir können ihr zumindest mit verschärften Sicherheitskontrollen am Flughafen entgegenwirken. Und damit, dass wir uns trotz allem so normal wie möglich verhalten.

Und was ist jetzt mit diesem neuen Feind, dem Virus? Ihn können wir offenbar nur in die Knie zwingen, wenn wir unsere grundlegenden Gewohnheiten ändern – und uns so abnormal wie nur möglich verhalten.

Zu Hause bleiben. Auf Abstand gehen. Und deswegen bitte keinen Aufstand machen. Sonst haben wir hier bald auch eine Ausgangssperre. #viennacalling

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Bei Regen im Zelt sitzen

Wir arbeiten seit gestern fast alle aus dem Homeoffice. Deswegen habe ich auch die Topfpflanze, die unser Tisch quasi adoptiert hat, heute zu mir nach Hause geholt. Jemand sollte sie in nächster Zeit gießen und auch ein bisschen mit ihr reden. Ich glaube, das krieg‘ ich hin.

Nach über zehn Jahren in der Welt der Outdoorsport- und Abenteuerfilme werdet ihr es mir sicher verzeihen, wenn sich mir schon gleich am zweiten Tag dieses „Social Distancings“ der folgende Vergleich aufdrängt:

Freiwillige Quarantäne ist so wie bei Regen im Zelt zu sitzen. Das passiert auf fast jeder Expedition, mindestens einmal. Die Abenteurer müssen dann warten, bis das Wetter besser wird. Aber wenn das in einem Film passiert, schneidet man die Wartezeit von mehreren Tage gerne mal runter auf vielleicht 20 Sekunden.

Und das nennen wir dann Doku.

Merke: Nur das wahre Leben verläuft wirklich in Echtzeit.