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STORYTELLING WERKSTATTBERICHT

Werkstattbericht: Hurra, ein Plot

Wer sich mit dem Thema Storytelling beschäftigt, kommt nicht umhin, sich mit einem archaischen Konzept vertraut zu machen. Die Rede ist von der Heldenreise. Wer das Grundmuster einmal verinnerlicht hat, wird es in den verschiedensten Ausprägungen in Romanen, Filmen und Serien wieder erkennen. Viel ist darüber geschrieben worden und wer will, kann zum Beispiel bei Joseph Campbell und Christopher Vogler tiefer in die Materie eintauchen. Allen anderen genügt vielleicht auch ein Blick auf das bewährte Schaubild, das ich der Einfachheit halber hier verlinkt habe.

Meist wird das Konzept anhand von Spielfilmen untersucht und erläutert. Aber eigentlich müsste das Genre der Abenteuerdoku – das Genre, mit dem ich mich in den letzten zehn Jahren intensiv beschäftigt habe – geradezu prädestiniert dafür sein, das Grundmusters der Heldenreise auf sich anzuwenden. Stattdessen habe ich immer wieder festgestellt, dass es eben nicht funktioniert.

Die Frage ist: Warum?

Die Rahmenbedingungen scheinen doch auf den ersten Blick perfekt zu sein. Jemand begibt sich auf eine konkrete Reise. Er oder sie hat ein greifbares Ziel und kämpft mit sehr realen Hindernissen. Das Gefahrenpotenzial ist hoch – und die Fallhöhe doch auch, oder? Schließlich schweben die Held*innen die meiste Zeit in echter Lebensgefahr.

Doch nach einem kurzen Seitenblick auf das Schema der Heldenreise wird klar, dass im wahren Leben nicht alles genau nach „Plan“ verläuft, was zur Folge hat, dass hier und da einiges nicht passt: Zuweilen ist in der Geschichte der Ruf des Abenteuers kaum zu hören, viele Probleme lassen sich am besten durch Nichtstun lösen (ein No-Go) und nur sehr selten wird unseren echten Held*innen übernatürliche Hilfe zuteil. Zwar lässt sich die Heldenreise noch immer erahnen, sie wirkt aber ziemlich unvollständig. Ich dachte lange, dass genau das das Problem wäre. Mittlerweile glaube ich:

Es liegt an den falschen Vorzeichen.

Im Abenteuer-Spielfilm begibt sich der Held auf eine Reise. Eigentlich will er das nicht, aber es muss.

In der Abenteuerdoku begibt sich die Heldin ebenfalls auf eine Reise. Eigentlich muss sie das nicht, aber sie will.

Damit steht das ganze Unternehmen von Anfang an unter einem völlig anderen Vorzeichen. Denn im Gegensatz zu fiktiven Figuren handeln reale Abenteurer*innen aus freien Stücken. Das soll ihre Leistung in keinster Weise schmälern. Aber sehr oft gibt es eben kein Problem, keinen Konflikt und einen daraus resultierenden äußeren Zwang, etwas zu tun müssen. Dieses in der Geschichte nicht vorhandene Grundproblem hat einen entscheidenden Einfluss auf die Dramaturgie – aber bleiben wir noch für einen Moment bei den Akteuren.

Die Abenteuer*innen sind sich ihrer Freiheit oder der Freiwilligkeit ihrer Handlungen stets bewusst, weshalb ich an dieser Stelle gerne noch einmal den berühmten Buchtitel des französischen Alpinisten Lionel Terray zitieren möchte, der seit über 60 Jahren immer wieder als Definition für das Bergsteigen herhalten muss. Ich glaube, dass man diese Definition auch auf sämtliche Spielformen des Abenteuers ausweiten kann. Lionel Terray bezeichnete die Bergsteiger als Les Conquérants de l’inutile, was so viel heißt wie Die Eroberung des Unnützen.

Echte Abenteur*innen nehmen sich die Freiheit, etwas zu erobern, das niemandem etwas nützt – mit Ausnahme ihrer selbst. Doch wo keine wirkliche Notwendigkeit besteht, kann eine Geschichte kaum ins Rollen kommen. Trotzdem gibt es eine ganze Reihe von Abenteuerdokus, die uns auch in Abwesenheit eines Grundproblems in ihren Bann ziehen. Ich glaube, das liegt an dem Setting, in dem wir uns in diesen Filmen bewegen, und an den beiden undurchschaubaren Gegnern, die immer wieder für Überraschungen sorgen.

It’s man vs. nature

Die Abenteuerdoku kann mit einem ganz entscheidenden Vorteil aufwarten, den viele andere Erzählungen nicht haben: Sie präsentiert stets ein anschauliches Ziel. Hohe Berge wollen bestiegen, stürmische Ozeane überquert werden. Auf ihrem Weg ans Ziel sind die Held*innen zwangsläufig die ganze Zeit in Bewegung. Und die ständig wechselnde Umgebung hält auch uns Zuschauer*innen bei der Stange. Wir wollen wissen, was hinter der nächsten Wegbiegung lauert. Aber es fällt uns schwer, Mutmaßungen für den weiteren Verlauf der Geschichte aufzustellen – weil unser erster Gegner unpersönlich und noch dazu launisch ist. Die Rede ist von der Natur.

Die Natur ist ein schwieriger Antagonist. Sie hat keine Agenda. Manchmal macht sie den Held*innen das Leben zur Hölle, manchmal mutiert sie unversehens zum Helfer. Das Gelingen des Unternehmens ist in letzter Konsequenz immer von ihrem „Wohlwollen“ abhängig. Das bedeutet: Unsere Held*innen, egal wie aktiv sie auch sind, haben ihr Glück nicht komplett selbst in der Hand. Sie können alles richtig machen und trotzdem scheitern. Einen Gegner, den man nicht einschätzen kann, kann man auch nicht besiegen.

Erschwerend kommt hinzu, dass unsere Held*innen auch zuweilen gegen sich selbst kämpfen. Da werden nicht nur körperliche Grenzen ausgelotet. Da sitzt das Problem auch manchmal im Kopf, in der eigenen Psyche – und ist damit sehr weit davon entfernt, anschaulich zu sein. Wenn man so will, ist der zweite Gegner, der in einer Abenteuerdoku auftreten kann, noch furchteinflößender als der erste: Man sieht ihn nicht einmal.

It’s plot vs. episode

In einer Abenteuerdoku gibt es also ein klares Ziel, aber keine Notwendigkeit. Wir sind zwar mit mächtigen Gegnern, konfrontiert, aber sie haben keine Agenda, sind undurchschaubar oder unsichtbar. Innerhalb eines solchen Rahmens kann es keinen stringenten Plot geben. Deshalb sind viele Abenteuerdokus eine lose Aneinanderreihung spannender Episoden, aufregend genug, um die Zuschauer*innen zu fesseln, aber ohne inneren Zusammenhang.

Ein Plot wird durch Kausalzusammenhänge bestimmt. Es handelt sich um ein Netz von Abhängigkeiten. Jeder Figur hat eine eigenes Ziel, und im besten Falle kollidieren diese alle miteinander und treiben die Geschichte immer wieder ein Stückchen voran. Dabei kommt es nicht auf die Menge der Figuren an. Schon zwei Personen mit unterschiedlichen Standpunkten können eine spannende Geschichte erzählen, selbst wenn sie dabei auf einer einsamen Insel festsäßen.

Doch in einer Abenteuerdoku haben die Mitglieder einer Expedition normalerweise alle das gleiche Ziel. Denn die Chancen ihr Ziel zu erreichen, werden höher, wenn sie sich gegen ihren übermächtigen Gegner Natur zusammenschließen. Wenn es Konflikte gibt, dann dauern sie nur sehr kurz an. Ein Streit, der die Gruppe entzweit, kann für einzelne Teammitglieder im schlimmsten Fall mit dem Tod enden.

Wenig Raum für zwischenmenschliche Konflikte bedeutet wenig gleichzeitig wenig Raum für Entwicklung. Die Protagonist*innen haben innerhalb dieses Rahmens in den allermeisten Fällen keine Chance eine grundlegende innere Wandlung durchzumachen. (Wie das Schema der Heldenreise es ja auch eigentlich fordert.) Am Ende der Reise sind sie die gleichen wie vorher – obwohl sie so weit gereist sind und so viel Neues kennengelernt haben. Es scheint, als würden die Eindrücke nur aufgesaugt und nicht verarbeitet, als würde das neu Gelernte zwar abgespeichert, aber nicht angewandt. Mit andern Worten: Stillstand. Ein Stillstand über den auch noch so viele Stempel im Pass nicht hinwegtäuschen können.

Aber: Muss das so sein?

Nach all diesen Überlegungen stelle ich mir die Frage: Sind alle Abenteuerdokus dazu bestimmt, sich von einer aufregenden Episode zur nächsten zu hangeln? Ist es vielleicht unmöglich, auch einen starken Plot in eine solche Geschichte zu integrieren?

Nein, dass ist es nicht. Auch eine Abenteuerdoku kann einen starken Plot haben. Diese Filme sind selten, aber es gelingt ihnen, der Reise über ihren Selbstzweck hinaus eine weitere Bedeutung zu geben. Sie wird zum Ausdruck der inneren Befindlichkeit der Protagonist*innen.

In der wunderbaren Segeldoku Maiden (2018) geht es nicht primär darum, um die Welt zu segeln und mit der ersten rein weiblichen Crew das Whitbread Round the World Race zu gewinnen. Es geht darum, der männlich dominierten Segelwelt zu zeigen, dass Frauen in diesem Sport genauso gut mithalten und auch gewinnen können. Nicht der unberechenbare Ozean ist hier der Hauptgegner. Die selbstbewusste Frauentruppe nimmt es mit der verschworenen Gemeinschaft der traditionellen Segelwelt auf. Hier haben wir ein abenteuerliches Setting, eine echte Mission und noch dazu einen konkreten Gegner. Ein solcher Film muss nicht episodisch erzählt werden.

Fazit:

Ob wirklich jede Abenteuergeschichte dieses Potenzial hat, kann ich noch nicht beurteilen. Darüber denke ich noch immer nach. Fürs Erste ist ganz hilfreich, ein Bewusstsein für den Mechanismus entwickelt zu haben. Nur was man verstanden hat, kann man auch anwenden.


Und weil er so schön ist, hier noch der Trailer zu Maiden.

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Werkstattbericht: Was Frauen wollen

Ich weiß, der Titel ist gewagt. Kann eine Frau denn wissen, was alle Frauen wollen? Natürlich nicht. Trotzdem bin ich im Verlauf meiner Recherchen in ein Fahrwasser geraten, das ein gewisses Maß an Verallgemeinerung geradezu verlangt. Und ich habe nach einem kurzen Protest meinen inneren Frieden damit gemacht, wohlwissend, dass diese Verallgemeinerungen für mich nur die Vorstufe einer detaillierten Charakterzeichnung sein werden.

Das klingt alles sehr theoretisch. Werden wir also konkret. Beginnen wir damit, was eine Frau (also ich) wollte, als sie anfing, an dem Projekt zu arbeiten: Sie wollte eine Abenteuergeschichte schreiben. Eine Geschichte über die Berge und das Ballonfahren und über zwei Frauen, die weit abseits der gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit ihren gemeinsamen Leidenschaft nachgehen.

Bei den ganzen Unbekannten, die ein solches Schreibprojekt mit sich bringt (Zeiten, die man nicht erlebt hat, Orte, an denen man nicht gewesen ist), war die größte Herausforderung, die beiden Schwestern als zwei eigenständige Frauen zu zeichnen. Nicht als hero und sidekick, sondern als zwei gleichberechtigte Figuren – genauso wie die Buchvorlage es eben vorgibt. Leider war das ein bisschen viel Harmonie für eine spannende Geschichte. Ich hatte zwei Figuren, die sich so ähnlich waren, dass sie genauso gut eine einzige hätten sein können. Also: zurück zur Recherche, neue Felder erschließen. Das Ganze nahm ein paar unerwartete Wendungen, soll heißen: Ich fand Dinge, die ich gar nicht gesucht hatte. Und somit zeigt sich wieder einmal wie sehr Figurenentwicklung und word building ineinandergreifen…

Back to the Drawing Board

Ich hatte versucht, das Thema „Frauenbewegung“ weitestgehend auszublenden, weil ich meiner Geschichte eigentlich keine politische Dimension hinzufügen wollte. Das lag nahe: Meine Protagonistinnen hatten sich in ihrem Erinnerungsbuch nie zu diesem Thema geäußert und ich wollte nichts hineinzwängen, dass nicht hineingehörte.Doch war es den beiden Abenteuerinnen wirklich egal gewesen, dass ihre Zeitgenossinnen für Gleichberechtigung, Wahlrecht und bessere Bildung für Frauen gekämpft hatten? Flüchteten sie vielleicht in ihre Abenteuer-Parallelwelt, um genau diesen Zwängen ihrer Zeit zu entgehen?

Ich habe den Eindruck, dass einige Abenteurer genau das tun, auch wenn sie es sich selbst nicht eingestehen würden. Aber für so feige hielt ich meine Protagonistinnen nun auch wieder nicht.

Fakt war: Die beiden Schwestern hatten den weitaus größten Teil ihres Lebens nicht in den Bergen, sondern in Meißen verbracht. Die Ältere unterrichtete Sprachen auf der Höheren Töchterschule, die Jüngere führte den gemeinsamen Haushalt. Vor diesem Hintergrund ist es extrem unwahrscheinlich, dass sie nichts von den immer lauter werdenden Protesten der Frauenbewegung mitbekommen haben sollten. Die Bildung gehörte schließlich zu ihren wichtigsten Themen – und als Lehrerin war Marga direkt betroffen.

Aber ich sollte wohl zunächst ein paar Worte darüber verlieren, welche Bildungswege Frauen damals prinzipiell offen standen.

Frauenbildung im Kaiserreich

Im Deutschen Kaiserreich war es jungen Frauen nicht möglich, das Abitur zu machen und ein Studium an einer Universität zu beginnen. Mädchen aus bessergestellten Bürgerfamilien konnten zwar die Höheren Töchterschulen besuchen, aber dort war nach der achten Klasse Schluss. Weitere Bildungswege für Frauen waren nicht vorgesehen. Kein Wunder, dass Gymnasien für Mädchen gefordert wurden.

Einige Frauen, die sich später in der Frauenbewegung engagierten, hatten zunächst den Lehrerinnenberuf angestrebt, weil sie hofften, sich auf diesem Wege weiterbilden zu können und finanziell unabhängig zu sein. Doch die Ausbildung im sogenannten Lehrerinnenseminar erfüllte nicht immer die großen Erwartungen.

Einen ungeschminkten Einblick gibt die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm in ihrem 1872 veröffentlichten Buch Was die Pastoren von den Frauen denken. Sie schreibt:

Ich habe zufällig mein Lehrerinnenexamen gemacht und kann
(…) die positivste Versicherung geben, daß, etwa 30 Gesangbuchlieder und eine entsprechende Anzahl Bibelsprüche abgerechnet, mein Wissen das Maß gewöhnlicher Elementarkenntnisse kaum überstieg und schwerlich den Bildungsstand eines Quartaners auf einem Gymnasium erreichte. Trotzdem war auf meinem Zeugnis zu lesen, daß ich zum Unterricht wohl befähigt sei. Zu gleicher Zeit mit mir machte eine junge Dame das Examen, die in dem Kampfe zwischen »mir« und »mich« durchaus noch nicht Siegerin geblieben war. Indessen sie bestand.

Hedwig Dohm: Was die Pastoren von den Frauen denken

Hedwig Dohm: Was die Pastoren von den Frauen denken
Das klingt nach Frust und Enttäuschung. Was ich voll und ganz nachvollziehen kann und was ich bei meiner Protagonistin Marga tatsächlich ein bisschen vermisse: Im Gegensatz zu Hedwig Dohm schien sie mit der Situation ganz zufrieden zu sein. Sie liebte es, Sprachen zu unterrichten, hatte sogar ein „Auslandssemester“ in Frankreich verbracht, stand finanziell auf eigenen Füßen und musste sich keinem Ehemann unterordnen, der ihr die abenteuerlichen Eskapaden in den Alpen womöglich noch untersagt hätte.

Aber in Bezug auf Frauenbildung war sie mit Sicherheit keine Revolutionärin und es würde sich falsch anfühlen, sie im Nachhinein zu einer zu machen. Ich glaube, sie hatte sich durch den Bergsport und die Ballonfahrten in den alteingesessenen Männerkreisen ein gewisses Standing erarbeitet und konnte dort „ihr Ding“ durchziehen – und das genügte. Andere Frauen hatten dieses Ventil nicht; umso lauter waren ihre Proteste.

Aber auch, wenn sich eine Frau nicht in der Frauenbewegung engagiert, kann sie von ihr „überrollt“ werden. Genau das ist meiner Protagonistin passiert:

Die Forderung nach besseren Bildungschancen für Mädchen führte in allen Teilen des Deutschen Reichs zu einer Schulreform und damit zur Abschaffung der Höheren Mädchenschule. Viele von ihnen wurden in Mädchengymnasien umgewandelt. Das war aber nur möglich, wenn der Lehrkörper entsprechend umstrukturiert und ergänzt wurde. Die Lehrerinnen, die ja selbst kein Abitur hatten, konnten wohl kaum junge Frauen zum Abitur führen. Marga Große unterrichtete nach der Reform also „nur“ noch an einer Volksschule. Französisch und Englisch, ihre Paradefächer waren dort völlig bedeutungslos. Darunter muss sie sehr gelitten haben. Die Folge war eine tiefe Lebenskrise.


Ich war mir zu Beginn der Recherche nicht bewusst, welches Ausmaß hinter ihrem persönlichen Drama steckte und konnte ihre Gefühle auch nicht nachvollziehen. Ich war noch nicht in der fremden Zeit angekommen. Aber es hat geholfen, einen Blick auf das große Ganze zu werfen und den Platz einer einzelnen Person darin zu finden. Für mich ist die fremde Zeit dadurch umso lebendiger geworfen – und was noch besser ist: ich entdeckte eine Möglichkeit, meine beiden Protagonistinnen voneinander abzugrenzen. (Aber das würde an dieser Stelle zu weit führen…)

Vieles, was heute für uns in Sachen „Frauenbildung“ selbstverständlich ist, (um noch einmal diesen antiquierten Begriff zu bemühen), nahm damals seinen Anfang.

Heute diskutieren wir noch immer über Chancengleichheit, wobei inzwischen weniger das Geschlecht, sondern die Herkunft ein entscheidender Faktor ist. Alles hat sich geändert und alles ist gleich geblieben?

Vor diesem Hintergrund ist es zumindest nicht völlig absurd, das Thema in einem historischen Gewand noch einmal anzusprechen. Vieles sieht man im Nachhinein klarer.

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Werkstattbericht: Sturzfahrt

Ich hatte nie vor, meine beiden Heldinnen als „damsels in distress“ zu zeigen. Aber genau das ließ sich nicht vermeiden, als ich die Meldung aus dem Namslauer Stadtblatt zitierte… Was war noch mal passiert? Ein Ballon stieg auf und stürzte beinahe ab – und mit von der Partie waren eben auch zwei Damen, die aber glücklicherweise gerettet werden konnten.

Seien wir ehrlich: Welche Leserin, welcher Leser des Jahres 1911 hätte ernsthaft angenommen, dass sich zwei weibliche Geschöpfe selbstständig aus so einer Situation hätten befreien können? Natürlich musste die gefährliche Sturzfahrt durch den heldenhaften Einsatz der beiden anwesenden Männern aufgehalten worden sein.

Ich weiß, das steht nicht da. Aber ich wage zu behaupten: Das musste man auch nicht hinschreiben…

Die „Momentaufnahmen“ aus dem Namslauer Stadtblatt haben uns zwar einen ersten Einblick gegeben, wie sich das Leben anno 1911 angefühlt hat. Da ich aber die Geschichte zweier Frauen erzählen will, werde ich nicht umhin kommen, mich um eine weiblichere Perspektive zu bemühen und sollte in diesem konkreten Fall Marga selbst zu Wort kommen lassen:

Auf eine lange, weite Hochgebirgsfahrt hatten wir gehofft – doch wehte fast kein Wind. Nur in großer Höhe – ich schätze um 4000 Meter – hatten Elli und ich ganz früh am Morgen an einem Wölklein über der Nordkette Nordströmung wahrgenommen. Wir wären darum gern sofort hochgestiegen, um die Strömung auszunutzen. Da wir aber nicht führten, hatten wir nicht zu bestimmen.

Margarete Große: Frauen auf Ballon- und Bergfahrten

Oha. Und offenbar gab es auch nichts zu diskutieren. Kein Wort darüber, dass man mit den beiden Herren gesprochen und ihnen die eigenen Beobachtungen und Ideen mitgeteilt hätte. Stattdessen nur vornehmes Schweigen – was zur Folge hatte, dass der Ballon etwa drei Stunden lang über dem Fallbachkar im Karwendel dahindümpelte.

Als man endlich höher hinaufstieg, waren die Ballastvorräte bereits gefährlich zusammengeschmolzen. Ein Wolkenschatten – und damit eine kühlere Luftschicht – lösten dann die Sturzfahrt aus, die vom Tal aus beobachtet wurde und besagte Rettungsmannschaft zum Abmarsch veranlasste. In Margas Erinnerungen stellt sich die Situation weit weniger dramatisch dar:

Einmal machten wir sogar – unfreiwillig, durch Sturz infolge Wolkenschattens – einen kurzen Ausflug, besser Einflug in das Gebiet der Wechselscharte – : wildes Emporschießen der Zacken und Wände um uns her! – Sand, Sand! – Und wir stiegen wieder. Die richtige Vorstellung der Wildheit der Gegend hatten wir nun erst gewonnen! Dazu nach der Vorhersage Gewitterneigung! (…)

Margarete Große: Frauen auf Ballon- und Bergfahrten

Vielleicht ist das nur meine Lesart, aber ich glaube, dass sie sogar ein bisschen Spaß hatte, als es urplötzlich nach unten ging und die bis dahin recht träge Ballonfahrt doch noch etwas Abwechslung bekam. Auch ihr Schreibstil ändert sich unwillkürlich. Er wird kürzer und abgehakter: Einschübe, unvollständige Sätze, übermäßiger Gebrauch des Ausrufungszeichens! Wir sind hier mittendrin und live dabei. Doch leider bleibt so eine Information auf der Strecke: Wer warf den rettenden Ballast eigentlich ab?

Es muss sich beim Ballon „Tirol“ übrigens um einen Gasballon gehandelt haben, der sich nur durch Abgabe von Ballast in der Höhe regulieren ließ. Wahrscheinlich fuhren die Damen immer im Gasballon, denn an keiner einzigen Stelle im Buch wird irgendein Brenner betätigt (wie man es vielleicht von einem klassischen Heißluftballon kennt) um wieder an Höhe zu gewinnen.

Hier haben wir einen Moment, in dem die Erzählung unscharf wird und Interpretationen erlaubt. Wie haben die beiden Frauen wohl reagiert?

Haben sie es dem Ballonführer überlassen, Ballast abzuwerfen und sich wider besseren Wissens zurückgenommen, weil sie nun einmal nicht führten und nicht zu bestimmen hatten? Denn es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden: Sie hatten zu diesem Zeitpunkt bereits viele erfolgreiche Fahrten in Eigenregie unternommen! Daher erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass sie in Anbetracht der kritischen Situation doch beherzt zur Schaufel gegriffen und in hohem Bogen Sand hinausbefördert haben.


Es ist eine Sache, sich mit Hilfe einer Zeitung in das Jahr 1911 zurückzuversetzen. Es ist etwas ganz anderes, sich in die Köpfe der Menschen hineinzudenken, die damals gelebt haben. Ich habe vielleicht schon eine grobe Ahnung davon, wie es sich im Deutschen Kaiserreich gelebt hat. Doch wie man respektive frau dachte und fühlte, dessen bin ich mir noch nicht zu 100% sicher.

Ich fand Margas und Ellis Geschichte nicht zuletzt deshalb so interessant, weil die beiden für die damalige Zeit ein so ungewöhnliches Leben geführt haben. Sie blieben zeitlebens unverheiratet und kinderlos und frönten stattdessen ihrer Outdoor- und Abenteuerbegeisterung.

Aber viele Fragen bleiben offen: Verfolgten sie die Entwicklungen in der Frauenbewegung? Wie viel lag ihnen an der Idee der Gleichberechtigung? War sie ihnen ein Stück weit egal, weil sie für sich selbst einen Weg aus der Enge ihres Alltags gefunden hatten?

Es gibt Momente, da verstehe ich meine Figuren noch nicht ganz. Denn so fortschrittlich und untypisch die beiden Frauen am Berg, im Ballon und in ihrem Alltag auch agiert haben, sie waren immer noch Kinder ihrer Zeit. Ohne Zweifel hatten sie sich gewisse Freiheiten erkämpft, doch es gibt immer wieder Momente, die bestätigen, wie sehr sie trotzdem im Denken des 19. Jahrhunderts verhaftet waren.

Vielleicht versteht man das besser, wenn man sich die Lage der Frauen damals noch einmal deutlicher vor Augen führt. Das wäre dann wohl der nächste Schritt…

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Werkstattbericht: Zeitreise

Ich habe in den letzten Wochen festgestellt, dass Zeitreisen besonders sehr sind, wenn draußen strenge Ausgangsbeschränkungen herrschen – und dass ich dafür nicht viel mehr brauche als eine alte Zeitung. Dabei beschäftigte mich eigentlich nur die folgende Frage: Waren meine beiden abenteuerbegeisterten Meißener Schwestern jemals öffentlich in Erscheinung getreten?

Es stellte sich heraus: Sie waren…

In einer kleinen Notiz auf Seite 6 des Namslauer Stadtblattes vom 8. August 1911 wurde von einem Beinahe-Ballon-Unglück in der Nähe von Innsbruck berichtet, das Marga auch in ihren Erinnerungen beschreibt.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich die kleine Meldung endlich auf der letzten Seite in der Rubrik Vermischtes entdeckt hatte. Einem ersten Faktencheck war damit vorerst genüge getan. Mehr noch, diese eng gedruckten Zeilen hatte mich ganz unverhofft in eine andere Zeit und an einen anderen Ort versetzt. Ein weiterer positiver Nebeneffekt: Ich jetzt wesentlich besser Fraktur lesen kann als vorher.

In Innsbruck stieg der Ballon „Tirol“ mit Oberleutnant Cajanek von der Luftschifferabteilung in Trient als Führer, den Damen Margarete und Elisabeth Große aus Meißen sowie Generalmajor Janitschek als Insassen morgens auf. Um die Mittagszeit wurde von Innsbruck aus beobachtet, dass der Ballon zwischen den Mohrenköpfen und den Neunerspitzen rapid niederging. Da man ein Unglück vermutete, ging von Innsbruck einen Sanitätsmannschaft ab. Es stellte sich dann jedoch heraus, dass der Ballon Ballastmangels wegen mitten im Gebirge die Landung hatte vornehmen müssen, die zwar schwierig, aber glücklich vonstatten ging.

Namslauer Stadtblatt, 8. August 1911

Wo liegt denn eigentlich Namslau?

Das ist nämlich gar nicht so leicht. Und wenn man keine Übung darin hat, kommt es schon mal vor, dass man ein „R“ mit einem „N“ verwechselt… Nun, nachdem ich festgestellt hatte, dass es Ramslau ganz offensichtlich nicht gab, versuchte ich stattdessen, Namslau zu verorten. Ich wurde fündig. Allerdings nicht einmal annähernd in der Nähe von Innsbruck.

Kleiner Exkurs: Namslau heißt heute Namysłów und liegt in Polen. In einer Gegend, die früher Schlesien genannt wurde und einmal zu Deutschland gehörte hatte. Wohlgemerkt: Wir reden hier vom Deutschen Kaiserreich und den Grenzen von 1871. Als nach dem 1. Weltkrieg der Versailler Vertrag 1920 in Kraft trat, befand sich Namslau dann auf polnischem Gebiet. Mit dem Überfall auf Polen 1939 wurde die Stadt erneut deutsch, ab 1945 dann wieder polnisch. Und die deutsche Bevölkerung wurde vertrieben. Hier spielten sich einige der umrühmlichsten Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte ab. Aber all das ahnte dort ja noch niemand, im August 1911.

Namysłów und Innsbruck sind heute gut 940 Kilometer und 9 Autostunden voneinander entfernt. 1911 war es gefühlt noch ein bisschen weiter. Denn man reiste langsamer.

Für die Tatsache, dass eine Namslauer Zeitung über eine missglückte Innsbrucker Ballonfahrt berichtet, habe ich nur eine einzige Erklärung: Es muss sich um eine außergewöhnliche Kuriosität gehandelt haben. Entweder, weil das angebliche Unglück gar keiner war – oder aber weil zwei Frauen mit von der Partie gewesen waren!


Die Reise geht noch weiter.

Eigentlich wollte ich ja nur bis Innsbruck. Aber dann landete ich in Namslau. Und als ich dort ankam, war auch Afrika nicht mehr weit. Ich kann es nicht leugnen, das verflixte Stadtblatt hatte meine Neugier geweckt. Was war am 8. August 1911 sonst noch an der Tagesordnung gewesen?

Gleich auf der ersten Seite springt mir eine vornehme Headline ins Auge: Das französische Kongogebiet. Man berichtete von den deutsch-französischen Verhandlungen über den Kongo und Marokko. Fazit: Koloniales Territorialgeschacher, befremdlich und beschämend.

Der nächste Artikel widmet sich dem deutschen Kaiser Wilhelm II. und seinen Lieben. Es wird berichtet, der Kaiser habe bei einem Jagdausflug auf dem schlesischen Schlosse Klitschdorf zwei kapitale Hirsche erlegt und auf der Heimfahrt „ein so langsames Automobiltempo eingeschlagen“, dass „es jedem Einzelnen (…) möglich war, den Kaiser genau zu sehen“. Während er „recht gebräunt und gesund“ aussah und „ausdauernd für die ihm dargebrachten Huldigungen“ dankte, hütete seine Frau Gemahlin auf Schloss Wilhelmshöhe mit einer kaiserlichen Mandelentzündung das Zimmer. Der Kronprinz war inzwischen zur Steinbockjagd ins Aostatal aufgebrochen.

Hatten die Redakteure hier ein Sommerloch zu füllen oder war dies wirklich das, was die Menschen an erster Stelle unter der Headline Politische Übersicht lesen wollten? Wären diese Infos nicht eher ein Fall für die Regenbogenpresse gewesen? Ja, wenn es die damals schon gegeben hätte! Eigentlich schade – bei den ganzen Königshäusern.

Vielleicht war es wirklich eine Sensation, dass der Kaiser seine Sommerfrische in Schlesien verbrachte. (Wir erinnern uns, was in Altötting los war, als der Papst einmal nach Bayern kam!) Und die Menschen, die ihm zujubelten? Die meisten hatten vom Kaiser wohl nie mehr als ein Foto gesehen. Berlin war weit weg und es gab noch keinen Fernseher, indem man seine Auftritte allabendlich hätte verfolgen können.


Momentaufnahmen anno 1911

Keine Angst, ich werde es euch ersparen, hier die ganzen sechs Seiten zu rezitieren. Das wäre in der Tat ein bisschen mühsam. Vielleicht bin in ja auch die Einzige, der sich bei der Lektüre einer alten Zeitung buchstäblich eine ganze Welt auffaltet. Für mich wird die Geschichte zwischen diesen Zeilen jedenfalls wieder lebendig. Und das muss sie auch, damit ich mich in meine Story hineinfühlen kann.

Wenn ich wissen will, wie sich das Leben vor 100 Jahren abgespielt hat, brauche ich Quellen, die nicht schon durch drei Hände gegangen sind – sonst werden am Ende immer nur die gleichen Klischees weitergegeben. Und eine altes Namslauer Stadtblatt scheint mir für diese Recherchen eine zumindest eine solide Basis zu sein: Die Rubrik Vermischtes mit ihren Momentaufnahmen aus dem vergangenen Jahrhundert sollte sich als wahre Goldgrube erweisen.


Juwelendiebe & „wohlwollende“ Einbrecher

Es zeigte sich, dass Katastrophen wohl seit jeher von Interesse gewesen sind. Der Sensationsjournalismus ist damit älter als ich dachte: „Bootsunglück auf Rügen“, „Vater und Kind ertrunken“, „Hochwasser in Sicht!“, „Mühlenbrand in Bernburg“, „Waldbrand bei Innsbruck“, „Sturz vom Dache in Berlin“ und „Absturz im Grödner Tal“. In Hinschenfelde (damals noch bei Hamburg) flog ein Kessel in die Luft, in der Türkei explodierte das Pulvermagazin eines jüdischen Pulverfabrikanten während einer Hochzeitsfeier in ein Valenzia stürzte ein Teil einer alten Festung ein und begrub 30 Häuser unter sich.

Aber: Da sind keine Autounfälle, keine Flugzeugabstürze, keine Terroranschläge, keine Kindesentführungen… Ich sage nicht, dass es deswegen besser war. Es war bloß anders. Und doch gibt es vieles, das sich anscheinend nie ändert:

„Vorsicht beim Genuß vom Obst!“, „Zur Warnung: Die Unsitte, Kindern das Spielen mit Streichhölzern zu leicht zu machen, hat wieder ein Opfer gefordert.“, „Schwerer Unfall während einer Schießübung“, „Verrat militärischer Geheimnisse“. Illegale Informationsbeschaffung steht wohl seit jeher hoch im Kurs. Womit wir bei den kriminellen Handlungen angelangt wären.

Aus Breslau wird gemeldet: Ein „Werber für die Fremdenlegion (…) machte sich an einen etwa 15 Jahre alten Schüler heran, den er verleitete, sich eine Summe Geldes anzueignen und (…) nach der Schweiz und sodann nach Marseille zu reisen.“ Kindern und Jugendliche Waffen in die Hand zu drücken ist ein Übel, das bis heute nicht aus der Welt geschafft werden konnte.

Immerhin war man in Königswusterhausen auf der Spur der Berliner Juwelendiebe. ( Juwelendiebe!) In Schwerin konnten Raubmörder ergriffen werden, ein Breslauer Student der Zahnheilkunde wurde des Mordes mit Chloroform überführt und in Berlin flog ein Bankschwindel durch eine gefälschte Unterschrift gerade noch rechtzeitig auf. Weniger Glück hatte die Reichsbank in Petersburg, die ihrer Filiale in Chabarowsk ein Geldpaket mit 200 000 Rubel geschickt hatte. Denn anstatt des Geldes kamen beim Öffnen des Pakets nur gewöhnliche Papierschnipsel zum Vorschein.

In Berlin waren die Kriminellen „wohlwollender“:

Ein Gastwirt in der Reichenbergerstraße wurde kürzlich von Einbrechern heimgesucht. Während er unten im Geschäft zu tun hatte, räumten sie ihm oben im ersten Stock die Wohnung aus und nahmen für 1000 Mark Kleidungsstücke und Wertgegenstände mit. Aber die Diebe waren wenigstens einigermaßen rücksichtsvoll und wohlwollend. Sie versetzten zwar ihre Beute, sandten aber dem Bestohlenen wenigstens die Pfandscheine zu. Wenn er ein kleines Opfer bringen will, kann er also wieder zu seinem Eigentum kommen!

Namslauer Stadtblatt, 8. August 1911

Herrlich! Auch wenn all dies nicht Weltbewegendes ist: ein vergangenes Jahrhundert wird allemal wieder lebendig. Vor allen Dingen seine Schattenseiten. Die Sonnenseiten muss ich wohl noch suchen…

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Werkstattbericht: Relevanz

Ich gehe schon seit einiger Zeit mit einer Geschichte schwanger, die sich vor gut hundert Jahren zugetragen hat. In dieser Geschichte übers Ballonfahren (und Bergsteigen) dreht sich alles um zwei Schwestern aus Meißen, die wild entschlossen ihre Röcke rafften und sich ins Abenteuer stürzten. Und das war im Deutschen Kaiserreich alles andere als normal.

Frau trug damals noch Korsett, trieb keinen Sport, dufte nicht wählen und es gab vielleicht eine Handvoll Berufe, die sie ausüben konnte – und das auch nur, bis sie endlich (gottlob!) verheiratet war.

Diese Zeiten sind vorbei – und das ist auch gut so. Warum liegt mir also soviel daran, mich gedanklich in das vergangene Jahrhundert und auf die Spuren zweier Frauen zu begeben, von denen nicht sehr viel mehr überliefert ist als ein mehr oder weniger wild zusammengewürfeltes Erinnerungsbuch mit ihren Berg- und Ballonabenteuern? Was hätten uns Marga und Elli Große heute noch zu sagen?

Ok. Reden wir über Relevanz.

Vielleicht hätte diese Geschichte mein Interesse gar nicht geweckt, wenn es nicht eine Stelle in besagtem Buch gegeben hätte, die mir seltsam vertraut vorkam… Doch bevor wir dazu kommen, möchte ich, dass ihr euch in die folgende Situation versetzt:

Wir befinden uns im Jahr 1911.

Irgendwo in Ungarn. Die Damen Große haben es soeben geschafft, ihren Ballon sicher zu landen, der sie in nur einer Nacht von Dresden bis hierher getragen hat. Ein Sturm hatte den Ballon erfasst und mit sich gerissen. Während der Wind weit unter ihnen an den Bäumen gezerrt und alles weggeweht hatte, was nicht angebunden war, harrten die Schwestern in vollkommener Windstille ihrem Korb aus und warteten darauf, dass der Sturm abflachte, denn die erfahrenen Ballonfahrerinnen wussten, dass sie bei diesen Bedingungen niemals würden landen können.

Als sie den Ballon endlich auf dem Boden aufsetzen können und nach wilder Schleiffahrt durch ein Kornfeld kurz vor der ersten Baumreihe eines Wäldchens zum Stehen bringen, wälzen sich die Schwestern überglücklich aus dem umgestürzten Korb. Doch das heikle Manöver ist nicht unbemerkt geblieben. Schon kommt ein Jäger angerannt.

„Sind sie verunglückt?“

Atemlos reicht er den Daumen die Hand, schaut sich verwirrt um.

„Wo sind denn die anderen?“

„Die anderen? Wir sind allein.“

„Was?! Zwei Damen allein?
Und auch noch aus Deutschland!“


Der gute Mann war völlig von den Socken. Unglaublich, dass zwei Frauen tatsächlich in der Lage sind, alleine in einem Ballon von Deutschland bis nach Ungarn zu fahren…

Man könnte jetzt sagen: Das ist über hundert Jahre her. Heute passiert so etwas doch nicht mehr. Mann weiß, was Frau kann und traut es ihr auch zu. Nein, nicht immer. Und das wäre noch gelinde formuliert.

Denn nun folgt, was sich 2009 in der kleinen Polizeistation von Qikiqtarjuaq auf Baffin Island zugetragen hat. Die Baffin Babes, vier Abenteuerinnen aus Schweden und Norwegen wollen sich hier ordnungsgemäß abmelden, bevor sie zur längsten Skitour ihres Lebens aufbrechen: 1200 Kilometer auf dem arktischen Packeis liegen vor ihnen. Und welche Frage des pflichtbewussten Officers bleibt während dieser Unterredung natürlich nicht aus?

„I understand you have a guide going with you?“

Jetzt sind die Baffin Babes verwirrt und müssen nachfragen.

„A guide?“

„Is there a guide going… travelling with…?“

„No. We‘re going on ourselves.“

„You‘re on your own!“

Es ist nicht zu verbergen. Das Erstaunen des Officers kennt keine Grenzen. Meines übrigens auch nicht. Fast ein ganzes Jahrhundert liegt zwischen diesen beiden Begegnungen und es scheint, als habe sich nichts geändert.

Die Abenteuerdoku „Baffin Babes“, in der sich der oben skizzierte Dialog abspielte, lief 2011 im Programm der European Outdoor Film Tour. Es war nach 11 Jahren – seit Bestehen der Filmtour! – der erste Film, bei dem eine Gruppe von Abenteuerinnen im Mittelpunkt stand. Wir titelten damals mit „Viel Abenteuer – wenig Bart“ und waren froh, dem durch und durch männlich dominierten Genre etwas Feminines entgegensetzen zu können. Ich habe unten mal eine meiner Lieblingsszenen aus dem Film verlinkt. Die erklärt Einiges.

Doch bis heute sind Frauen in Abenteuerfilmen eher dünn gesät. Es gibt sie, aber mein Eindruck nach über zehn Jahren im Business ist, dass die großen Budgets (die die Grundlage einer Expedition und einer guten Doku sind) tendenziell eher an die männlichen Kollegen gehen. Oder haben Frauen einfach weniger das Bedürfnis, von ihren Abenteuern zu erzählen – filmisch zumindest? Bücher zum Thema gibt es ja eine ganze Menge.


Ich muss gestehen – und zu meiner Schande gestehen – dass ich die Abwesenheit von Frauen in der Abenteuerwelt lange Zeit als normal empfunden habe. Ich habe mich nicht gefragt: Wo sind die Frauen? Im Nachhinein finde ich das ziemlich alarmierend, vor allem, weil dieser Zeitraum so lange war.

Meine erste richtige Abenteuergeschichte habe ich schon in der neunten Klasse geschrieben. In Französisch. Wir hatten eine engagierte Lehrerin und nahmen zum ersten Mal am Bundeswettbewerb Fremdsprachen teil. Die Französischen Revolution war gerade dran gewesen und irgendwie muss sich das Bild der zu jener Zeit vielgenutzten Guillotine in meinem Hirn irgendwie mit meiner Vorliebe für Gruselgeschichte verschaltet haben.

Auf jeden Fall fand ich es amüsant, die enthauptete Königin Marie Antoinette als Geist auf der Suche nach ihrem Kopf in Erscheinung treten zu lassen. Doch Marie Antoinette war nur als Nebenfigur geplant. Eigentlich ging es um zwei Jungs, die ihrem Geist auf einer ungeplanten Zeitreise ins Jahr 1793 zufällig begegnen sollten…

Naja, es war ziemlich wild und weil wir uns mit den visuellen Effekten, die die Verfilmung einer solchen Geschichte erforderte hätten, eindeutig überfordert fühlten, blieb uns nichts anderes übrig als uns in ein weitaus unkompliziertes Genre zu flüchten: Wir haben das Ganze dann als Hörspiel aufgenommen. (Was gäbe ich darum, diese Kassette noch einmal anhören zu können!)

Wir waren deutlich mehr Mädchen in der Französischklasse und die wenigen Jungs glänzten nicht unbedingt in Sachen Aussprache. Somit hätte ich die Geschichte schon aus rein praktischen Gründen von Anfang an mit weiblichen Hauptfiguren planen müssen. Aber auf diese Idee bin ich beim Schreiben gar nicht gekommen! Mädchen gehen nicht auf abenteuerliche Zeitreisen. What?! (Sage ich heute.)

Zum Glück wunderte sich unsere Lehrerin damals schon und schlug kurzerhand vor, aus den beiden Jungs zwei Mädchen zu machen. Und damit hatte ich auch noch eine der beiden Hauptrollen an der Backe.


Ich bin heilfroh, dass die Zeiten dieser innerlichen Denkblockade inzwischen auch vorbei sind. Das Abenteuer ist auch weiblich – und es sollte auch mehr Geschichten geben, die davon erzählen. Als Buch, als Film – whatever. Wer weiß, wohin mich meine beiden Ballonfahrerinnen noch tragen werden. Ich bleibe auf jeden Fall dran.

Fortsetzung folgt…

Ach ja: So kann das harte Abenteuerleben auch aussehen: